Wes Anderson und Berthold Brecht

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12. Februar 2013
Wie man einem meiner anderen Blog-Beiträge entnehmen kann, gefallen mir die Filme vom Wes Anderson sehr gut, z.B. die Tiefseetaucher oder Royal Tenenbaum. Nachdem ich in der letzten Woche Moonrise Kingdom gesehen habe, möchte ich von einem Zusammenhang erzählen, der mir schon länger durch den Kopf geht.
 
Ich halte Wes Anderson in gewisser Weise für den Berthold Brecht des Kinos. Warum ich das tue und wieso das interessant ist, erkläre ich jetzt. Ich fasse mich dabei kurz, weil ich keinen Exkurs in Theatertheorie schreiben will.
 
Wer Berthold Brecht im Detail ist, müsst Ihr bei Wiki nachlesen. Brecht gilt als einer der bedeutendsten Dramatiker des 20. Jahrhunderts. Er hat eine eigene Theorie zum Theater entwickelt und dazu diverse Stücke geschrieben.
 
Die Brecht'sche Theatertheorie (auch "episches Theater" genannt) wendet sich vom klassischen Theater ab. Brecht möchte nicht mehr eine möglichst glaubwürdige Realität darstellen, sondern durch Verfremdungseffekte erreichen, dass der Zuschauer nachdenkt. Hierzu bedient er sich eines breiten Werkzeugkasten, der nicht immer voll ausgenutzt wird. Ein Beispiel für diese "Verfremdung" ist das Verwenden eines Erzählers. In dem Brecht einen Erzähler auf die Bühne stellt, der mit dem Geschehen nichts zu tun hat, durchbricht er die Handlungsebene und den Schein von Realität.
 
Und damit sind wir schon bei Wes Anderson. Das Element des Erzählers taucht hier häufig auf. Beispielsweise in der Einführung bei Royal Tenebaum oder noch viel deutlicher bei Moonrise Kingdom.
 
Weitere Beispiele für die Verfremdung bei Anderson ist das Boot in Tiefseetaucher. Der Wechsel durch die Räume, der beim Zuschauer den Eindruck vermittelt, er sähe in Theaterkulissen herein. Dieser Effekt wird auch in anderen Filmen benutzt.
 
Ein weiteres Mittel der Verfremdung nach der Brecht'schen Theatertheorie ist die "Rollendistanz der Darsteller". Dies ist der Knackpunkt in Andersons Filmen. Die Darsteller sind stets überzeichnet und nicht realistisch. Hier möchte ich an die Crew aus Tiefseetaucher erinnern. Die Bekleidung der Crew (himmelblaue Pyjamas, rote Pudelmütze, Pistole am Bein) ist schon absurd. Ebenso die Gestaltung der Familie Tenenbaum oder auch die drastische Darstellung der Boyscouts in Moonrise Kingdom.
 
Viele die mit Andersons Stil nichts anfangen können, kritisieren die minimierte Darstellung der Charaktere was deren Emotionen betrifft. Ein Meister dieses Fachs ist Bill Murray, der es schafft einen ganzen Film ohne Gesichtsausdruck zu spielen. Das ist gänzlich unrealistisch. Die Charaktere der Filme erleben meist zutiefst traurige oder bewegende Dinge. Anderson will hier nicht lauter introvertierte oder emotionslose Menschen darstellen - dagegen spricht auch, wie die Menschen handeln. Anderson bedient sich der Verfremdung und überlässt es dem Zuschauer herauszufinden, was die Charaktere empfinden.
 
An dieser Stelle unterscheidet sich Anderson von Brecht. Brecht wählte die Verfremdung, um Emotionen in den Hintergrund zu rücken und Gesellschaftskritik hervorzuheben. Brecht hat politisches Theater gemacht. Anderson macht romantische Filme. Er nutzt die Verfremdung, um dem Zuschauer eine Projektionsfläche für die eigenen Gefühle darzubieten. Mittels reduzierter Anhaltspunkte gibt er dem Zuschauer vor, dass sich die Person auf der Leinwand in einer emotional berührenden Situation befindet ("Oh, das ist aber schrecklich für den Mann!"). Er verweigert dem Zuschauer aber große Teile der Reaktion ("Was geht wohl in dem vor?"). Und löst diese beim Zuschauer aus ("Er muss wohl sehr traurig sein. Ich wäre das jedenfalls."). Diese Gedankenkette nutzt die Empathie des Zuschauers um tiefgründige Emotionen herbeizuführen.
 
 
Indem Anderson aus der Verfremdung die emotionale Berührung beim Zuschauer herbeiführt, nimmt er die Brecht'sche Theatertheorie und verwendet diese zu einem anderen Zweck. Brecht versuchte Emotionen zu reduzieren, um die Gesellschaftskritik zu verstärken. Anderson verstärkt dadurch die emotionale Reaktion des Zuschauers. Die Mittel sind bei beiden gleich. 
 
Die Filme von Wes Anderson sind stilistisch - und darüber hinaus - Meisterwerke. Um einen Film in voller Tiefe zu erfassen, muss der Zuschauer aber bereit und in der Lage sein, emotional (mit) zu arbeiten.
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Danke für euer Interesse!
@Cineast: Klar erinnere ich mich daran ;-) Freu mich ja über Gleichgesinnte!
@Harry: Schön wieder von Dir zu lesen!
@Kodijak: Grundsätzlich ist es ja häufig so, dass man Filmen "ihre Chance"geben muss. Hast du denn mal Royal Tenenbaums gesehen? Ich glaube der ist leichter zugänglich und wenn man sich einmal von Anderson begeistern lassen hat, dann ist er eine ziemliche Bereicherung.
BTTony
12.02.2013 um 17:30
von BTTony
#6
Hallo lieber Christian. Mit diesem recht anspruchsvollen Blog, der im übrigen mein volles Interesse weckte, konnte ich Einiges lernen. Vielen Dank.
docharry2005
12.02.2013 um 16:58
#5
WOW - Danke für einen wirklich interessanten und toll geschriebenen Blog, der (und das ist doch immer positiv zu vermerken :-)) durchaus den Gebrauch des eigenen Hirns verlangt :-).
Ja, als "Kind des Ostens" bin ich an Brecht natürlich nicht "vorbeigekommen" und dessen Schaffen ist mir durchaus vertraut - umso interessanter ist es die von Dir festgestellten Analogien zwischen Brecht und Anderson aufgezeigt zu erhalten, denn, wie Du Dich erinnern wirst, hatte ich mit Blick auf Deinen Avatar mal mitgeteilt, dass ich die "Tiefseetaucher" und Anderson sehr mag.
Und bei genauerer Betrachtung und nach Studium Deines erstklassigen Blogs muss ich mit Deiner Einschätzung konform gehen.
Wirklich ein toller Ansatz und ein zum nachdenken anregender Blog - Danke dafür!
Cineast aka Filmnerd
12.02.2013 um 15:55
#4
Auch ich bin mit beiden Künstlern und ihren Werken nicht sehr vertraut.

Aber dein Artikel hat sehr viel zur Aufklärung und zum Verständnis beigetragen, hättest du den bloß schon vor längerer Zeit mal geschrieben.

Habe nämlich vor längerer Zeit mal "die Tiefseetaucher" gesehen und konnte/kann mit dem Film nichts anfangen.

Du zeigst mir schöne Ansatzpunkte, wie man einem solchen Werk hätte begegnen können. Der Regisseur hat es nämlich, für mich, nicht geschafft.

Ich konnte, oder wollte ihm auf dieser Reise nicht folgen. Diese formale "Kälte" der Figuren hat mich komplett abgeschreckt und ich wahr daher nicht bereit, oder aufgeschlossen genug, mich auf den Film und seine TATSÄCHLICHE Frage der Hintergründe, oder versteckten Emotionen einzulassen.

Aber so ist es eben halt, so wie auch Künstler einen unterschiedlichen Ansatzpunkt verfolgen um ihr Publikum zu finden, so sucht sich auch das Publikum den Künstler heraus der am besten zu ihnen passt. Ich weiß zwar nicht was die Zukunft noch so bringt, aber Wes Anderson wird es sehr schwer bei mir haben. Aber auch ich werde mich ja noch genug verändern in meinem Leben (und solche Beiträge wie deiner tragen dazu bei, seinen eigenen Horizont und festgefahrene Einstellungen zu überdenken)

Da hast du einen sehr gut ausgearbeiteten, vergleichenden und analytischen Artikel geschrieben, Respekt dafür von meiner Seite! Hoffe der wird noch oft angeklickt und mit Danke honoriert, wirklich tolle Arbeit!
Kodijak
12.02.2013 um 12:22
#3
@MoeMents: Danke für den Kommentar!

Ich finde den Blog kann man sehr gut um deinen Kommentar erweitern. Es ist Kunst, wenn dem Betrachter etwas abverlangt wird. Dies wird aber bei vielen Filmen nicht verfolgt. Da wird das Denken und Fühlen dem Betrachter abgenommen. Du hast recht, jedes Gemälde, dass ich mir anschauen geht da aufgrund der in sich liegenden Beschränkungen weiter.
BTTony
12.02.2013 um 12:02
von BTTony
#2
Wirklich TOLLER Beitrag, auch wenn mir Brecht nicht wirklich etwas sagt, konnte ich durch deine Erklärungen schön die aufbereiteten Schlüsse ziehen. Find ich super ...

Wenn man es nicht intellektuell erklären würde, könnte man es ganz einfach auch KREATIVITÄT nennen. Etwas zu durchbrechen was über die übliche Norm hinausgeht um einen weiteren Teil in UNS aufzumachen oder zu erschließen. Wenn man sich darauf einlassen kann ...

Denn viele winken da vorher schon ab, weil sie mit Fantasy/Abstraktem/auf die schnelle nicht Erklärbaren oder Ähnlichem schon gar nichts anfangen können. So bleibt dieser Teil auch verschlossen, obwohl er im Leben eigentlich GANG und GEBE ist, überall sehen wir Kunst, Musik, beosonders auch, dass wir Filme sehen, geht schon in diese Ersatzrealität.
JETZT fällt mir grad ein, es ist witzig... du erzählst davon eine unwirkliche Realität durch Verfremdung darzustellen und eigentlich ja schon DAS THEATER ODER DER FILM selbst (ohne Inhalt) dies macht !! Find ich grad genial ... sowas wie ein Bild im Bild !

Erst wenn diese Wand durchbrochen ist, der Horizont erweitert kommt man dahin, wo man, wie du sagst, einer erneuten tieferen Emphatie folgen kann, oder etwas neues ergründen. Ich finde "Wes Anderson" deshalb auch genial. Die Entfremdung, bringt was neues (?) hervor !
Jetzt fällt mir gerade "Alles ist erleuchtet" mit Eliah Wood ein, der war teilweise auch so schräg ...

Danke !!
MoeMents
12.02.2013 um 11:44
#1

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