Dies ist nun ganz gewiss kein Film, den man allen im Freundeskreis vorbehaltlos empfehlen würde, was ganz einfach daran liegt, dass man als Zuschauer entweder eine gewisse Empathie für "Verzweifelte" oder aber ausgefallene Film-Vorlieben mitbringen sollte. Die Kernbotschaft des Films lässt sich rasch zusammenfassen: Gewalt führt nur zu noch mehr Gewalt. Die Geschichte ist ebenso rasch erzählt: Ein Mann rächt sich am Mörder seiner Eltern und löst dadurch eine Gewaltspirale aus, die am Ende Shakespeare´sche Ausmasse annimmt. Gesprochen wird wenig, der Protagonist ist nicht zum Rächer geboren, hatte noch nie eine Waffe in der Hand und stellt sich entsprechend unbeholfen an, seine Welt liegt in Trümmern. Fertig. "Blue Ruin" ist ein sehr ruhiger Film ohne hektische Schnitte, ohne Stilisierung der Gewalt, praktisch ohne Musik, ohne Erklärungen zu wer, wie, was, wieso.
Mich haben aber gerade die ruhigen Töne und die sehr nüchterne Inszenierung angesprochen. Ein Ex-CIA-Superagent, der sich durch Horden von Bösewichten metzelt, hat etwas völlig und offensichtlich erkennbar Irreales an sich, weshalb der Zuschauer sich nicht mit ihm identifiziert. Solche Filme haben mit dem eigenen Leben in der Regel überhaupt nichts zu tun und hallen folglich selten nach. Einem Normalo, der versucht, Frieden zu finden, indem er den Mörder seiner Eltern tötet, der zitternd in einer Toilette wartet, bis er seinen "Plan" in die Tat umsetzen kann, sich dabei vor Angst fast in die Hosen macht und von Gefühlen übermannt wird, die ihm die Tränen in die Augen treiben, der dann aber trotzdem blindlings aus der Toilette stürzt und einfach mal zusticht, sehe ich dagegen mit Unbehagen zu. Die meisten von uns können sich viel besser mit Dwight als mit einem John McLane oder Konsorten identifizieren, einfach, weil Dwight ein Normalo ist, wie er im Buche steht. Das schafft natürlich eine emotionale Bindung, die jeder Handlung im Film eine besondere Intensität verleiht. Da kann dann auf Musik weitgehend verzichtet werden. Ja, auch die blutigen Szenen würde man lieber überspringen, weil sie so echt wirken. Man leidet mit Dwight mit, fragt sich, weshalb er die Schrotflinte liegen lässt, weshalb er dem Typen mit der Armbrust den Rücken zuwendet, weshalb er sich so leicht von Teddy überrumpeln lässt etc., weiss aber genau, dass man sich selbst wohl nicht sehr viel geschickter angestellt hätte.
Die Performance von Macon Blair ist beeindruckend. Er wirkt wie nicht ganz gebacken, ist aber offensichtlich völlig normal und soweit gesund, hat halt einfach den Tod seiner Eltern nie überwunden. Er spielt die gesamte im negativen Bereich liegende Hälfte der Gefühlspalette gekonnt durch und trägt den Film über weite Strecken, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Dwights Vorgehen ist eine Mischung aus Impulsivität, aus Unbeholfenheit, aus Halbwissen, das er Filmen entnommen zu haben scheint, aus stümperhafter Imitation (Autoverfolgung, Irreführung im Haus der Schwester, Entfernung eines Pfeils aus seinem Bein), aber auch aus eisernem Willen, seinen Seelenfrieden nun endlich zu finden, koste es, was es wolle. Schnell scheint ihm klar zu werden, worauf das hinauslaufen wird, doch er nimmt den sich früh abzeichnenden Ausgang der Geschichte in Kauf. Am Ende ist dem Zuschauer klar, dass bei diesem Rachefeldzug mehr Glück als Verstand im Spiel gewesen ist, was ja auch wieder realistisch scheint.
Der ganze Film hat allen wunderschönen Landschaftsaufnahmen, gekonnten Kameraeinstellungen und dem perfekt eingesetzten Song ("No Regrets") zum Trotz etwas Dokumentarfilmmässiges an sich, einfach weil dem Zuschauer als Beobachter völlig neutral eine Geschichte erzählt wird, die sich gerade nebenan abgespielt haben könnte. Dabei ist er aber nicht nur eine Dokumentation vom Ruin eines Mannes (geniale Ideen: Polaroid und Postkarte!), sondern dokumentiert auch quasi nebenbei den Ruin einer Gesellschaft oder zumindest eines Teils einer Gesellschaft. Die Welt von "Blue Ruin" ist dreckig. Sogar eine offenbar einflussreiche Familie wohnt in einem Haus, das mindestens zur Hälfte einfach nur eine Müllhalde ist. Die fette Stretch-Limousine ist alt und verrottet, dass sie wohl nicht mehr allzu lange fahren dürfte, aber immer noch tausendmal besser im Schuss als die Klapperkiste, in der Dwight rumfährt und lebt. Man begegnet keinen auffallend schönen Menschen. Nur einmal nimmt Dwight eine richtige Mahlzeit zu sich, aber nicht etwa in einem Restaurant, sondern in einem einfachen Diner. Diese eine "anständige" Mahlzeit ist bei aller Einfachheit aber schon ein Fremdkörper, den Dwight nicht bei sich behalten kann. Die Lebensmittelreste, die er sich aus Müllsäcken zusammenklaubt, scheinen ihm besser zu bekommen. Die meisten Menschen haben zwar Häuser und müssen nicht im Auto leben, tragen normale Klamotten, können Vergnügungsparks besuchen oder einen Tag am Strand verbringen, aber der Zuschauer wird das Gefühl nie los, dass da mehr Schein als Sein im Spiel ist, dass mindestens 90 Prozent der Leute sich durchkämpfen muss und selbst so wohl nicht alle Rechnungen bezahlt werden können. Es scheint nur ein kleiner Schritt zu sein, bis sie mit Dwight im Schatten am Rand vom Strand sitzen und den andern zusehen, wie sie sich unterhalten, bis sie nicht mehr Vergnügungsparks besuchen, sondern ausserhalb des Zauns stehen und hoffen, dass die Leute, die sich den Parkeintritt noch leisten können, Essen wegwerfen. Ich gebe zu, dass ich davon keine Ahnung habe, aber mir scheint, "Blue Ruin" liefert auch ein realistisches, ernüchterndes Bild des mittleren Westens der USA ab, wo schon längst nicht mehr alles eitel Sonnenschein ist. Ohne eine Kehrtwende, die nicht mit den halbherzigen Versuchen herbeigeführt werden kann, mit denen Dwight die Todesspirale aufhalten will (wobei klar wird, dass er das eigentlich gar nicht will), wird der Ruin der Gesellschaft, an deren Rand Dwight gestanden hat, ebenso unabwendbar wie der Ruin der beiden Familien sein...
Bild ist hervorragend, die deutsche Tonspur im HD-Format liefert zwar keinen Bombast-Sound, ist aber dennoch gut und räumlich abgemischt. Extras habe ich mir nicht angesehen, deshalb mal mit 3 Punkten bewertet...
bewertet am 10.04.17 um 10:45