Ich habe The Revenant gestern Abend in der OV gesehen und möchte
kurz meine Eindrücke schildern.
Schon als der erste Teaser veröffentlich wurde, war ich total
elektrisiert und habe mich tierisch auf den fertigen Film gefreut.
Die Kritiken und Nutzerkommentare hier haben die Vorfreude noch
weiter steigen lassen. Und tatsächlich habe ich gestern einen der
intensivsten Kinofilme sehen können, die mir bislang untergekommen
sind.
Ich verwende das Verb "genießen" bewusst nicht, denn dafür ist The
Revenant viel zu rau und brutal. Dies ist aber nicht allein der
grafischen Gewalt geschuldet, sondern liegt an Regisseur und
Kameramann, die die Unerbittlichkeit der Natur so grandios in Szene
gesetzt haben. Dennoch bleibt der Film erstaunlich ambivalent, denn
er zeigt nicht nur die Gefährlichkeit (und Wehrhaftigkeit, siehe
Bär-Szene), sondern in - im wahrsten Sinne des Wortes - traumhaften
Bildern auch die einzigartige Schönheit der Natur.
Manchmal meinte ich, tief antimenschliche Noten in dem Film
entdeckt zu haben; man denke nur an den Einstieg und die Einführung
der Jagdexpedition: der letzte soziale Dreck in der "neuen Welt".
Hier ist sich jeder selbst der nächste und nur auf seinen
persönlichen Profit aus. Später werden uns dann die Franzosen als
weitere Übeltäter präsentiert. Ja sogar auch die amerikanischen
Ureinwohner leben nicht in dem Einklang miteinander, der aus ihren
anklangenden Worten gegenüber den Fremden scheinbar herausklingt.
Diese Eindrücke werden mit der Darstellung des destruktiven
Überlebenswillens der menschlichen Natur gepaart, die in einer
besinnungslosen Zerstörung der Biosphäre (Stichwort: Büffelschädel)
Ausdruck findet. Kurz: Mit ihren grandiosen Naturaufnahmen zeigen
Lubezki und Inarritu eine unberührte Welt ohne zweibeinige
Aggressoren, die sich selbst genügt. Die zunehmende Zivilisation
und das immer weitere Eindringen in ehemals unberührte Bereiche
zeichnet jedoch das drohende Ende dieser einzigartigen Schönheit
vor.
Dass dem Film aber auch, und zwar trotz des Endes und aller subtil
bis unverblümt über mehr als zwei Stunden zur Schau gestellten
Verderbheit, etwas Positives innewohnt, zeigt DiCaprios Charakter
Hugh Glass. Sein Findungsprozess, der sich freilich aus zwei
Tragödien speist, verkörpert gleichermaßen den Lebens- und
Lernwillen des Menschen. Glass Katharsis am Ende lässt Hoffnung für
die Menschheit entstehen, nachdem The Revenant sich zuvor redlich
bemüht hat, den Mensch von seiner schlechtesten Seite zu
zeigen.
Abseits von dieser Interpretation ein paar andere
Bemerkungen.
Wie schon gesagt war der Film für mich eine Offenbarung, echte
Kinokunst. Ich habe jede einzelne Minute aufgesogen. Man kann
natürlich auf hohem Niveau meckern: Dass Glass nach solch schlimmen
Verwundungen doch recht fix wieder einigermaßen auf den Beinen war,
schien mir ein wenig unglaubwürdig. Oder dass die Indianer, zu
Beginn noch wahre Meisterschützen, in einer späteren Szene einfach
nicht treffen wollen, wirkte ein wenig lächerlich.
Richtig ärgerlich fand ich jedoch, dass die Tonabmischung nicht
richtig gelungen ist. Nicht selten sprach ein Darsteller mehr oder
weniger direkt in die Kamera, und trotzdem schienen seine Worte von
weit entfernt gerufen, gedämpft gesprochen oder geflüstert zu
werden. Ich habe mich ein wenig durch Besprechungen gelesen und
einige Kommentare gefunden, die genau dasselbe Phänomen
beschreiben. In diesem Podcast wird beispielsweise auch davon
berichtet (
Minute 17:08 bis 18:12). Da
mehrfach davon berichtet wurde, glaube ich nicht an ein
Soundproblem im Kino; allenfalls hat es dort eine nicht richtig
eingestellte Anlage noch schlimmer gemacht. Das Grundproblem liegt
wohl allerdings beim Film selbst. Ich hoffe, dass dieses Manko bei
einer später Heimkino-VÖ ausgemerzt wird.
Zum Schluss will ich noch kurz auf die englische Fassung eingehen.
Hier im Thread wurde es bereits geschrieben, ich kann es nur
wiederholen: Teilweise ist es praktisch unmöglich, das Gesprochene
zu verstehen. Natürlich bin ich kein native speaker, aber ich
attestiere mir durchaus, das gesprochene Englisch sehr gut zu
verstehen (auch wenn es mit dem Selbersprechen mangels Übung hakt).
In The Revenant ist das Genuschel aber oftmals so extrem, dass ich
schlicht ausgestiegen bin. Meine Einschätzung, dass sich selbst
Muttersprachler schwertun, in The Revenant immer alles zu
verstehen, belegen zumindest die Sprecher des oben verlinkten
Podcasts (zwischen Minute 32:15/32:22 und 32:28). Inbesondere Tom
Hardy sticht heraus, obwohl das Knurrige, Nuschelige andererseits
natürlich super zum Charakter passt. Jedenfalls hätte
ich
mir doch Untertitel gewünscht.
Abschließend möchte ich nur noch einmal sagen, dass dieser Film
etwas ganz Besonderes ist. Er reißt mit, er macht Spaß, er ist aber
auch unheimlich grausam, sowohl auf bildlicher, als auch auf
Meta-Ebene. Aufgrund der hervorragenden Aufnahmen sollte man m.E.
The Revenant
unbedingt im Kino sehen. Wie bei dem Cast
nicht anders zu erwarten, machen die Schauspieler ihre Sache
hervorragend. So sehr, dass es schon mit dem Teufel zugehen müsste,
wenn nicht mindestens einer der beiden Oscars für männliche
Darsteller (Haupt-/Nebendarsteller) an DiCaprio respektive Hardy
gehen würde. Übrigens war Fitzgerald (Hardy) für mich sogar noch
einen Ticken interessanter und überzeugender gespielt, als Glass
(DiCaprio) - trotz aller Entbehrungen. Das soll DiCaprios Leistung
in keiner Weise schmälern; es überraschte mich lediglich, mit
welcher Präsenz und Klasse Hardy seine Szenen immer wieder
ausfüllte.
Von mir gibt es eine klare Kino-Empfehlung und 9 von 10 Punkte.
Vielleicht geht es sogar noch auf 9,5 nach oben, wenn ich The
Revenant noch einmal begutachtet habe.
Zitat:
Zitat von -Para-
Das ganze Kino war ruhig und es war zu 90-95 % ausverkauft. Hatte
was.
Du Glücklicher! In meiner Vorstellung habe ich erstmals dieses
vielzitierte Horror-Publikum erlebt (okay, vielleicht nicht ganz
so schlimm): alle paar Minuten das Handy raus, leise
Szenen mit blöden Kommentaren versaut oder an den unpassendsten
Stellen Fresskram oder Getränke mit höchster Intensität konsumiert
oder gleich zu Boden befördert...
Zitat:
Zitat von flash77
Ich dachte Glass ist viel länger "alleine" unterwegs und man sieht
nur seine Perspektive.
Ja, das hat mich auch sehr überrascht. Siehe auch oben, mein
letzter Satz zu Fitzgerald/Hardy. Ehrlich gesagt war ich davon auch
ein ganz kleinwenig enttäuscht, denn ich hätte mir seine Rückkehr
noch länger und entbehrungsreicher vorgestellt.
Gruß,
Joh