Über den Dächern von Nizza
ist auf jeden Fall mehr los, als über denen von Tokio. So rasant und vielversprechend der Film auch anfängt, so zäh und ermüdend schleppt er sich im zweiten Teil voran.
Der furiose DMT Drogentrip zu Beginn, lassen auf auf eine visuelle Achterbahnfahrt hoffen, die vorgestellten Charaktere auf ein Underdogfilm ala Trainspotting, oder Drogendrama wie Jesus son o.ä. schließen.
Nach dem sehr zeitigen Ableben Oscars aber endet die Geschichte abrupt, bevor sie eigentlich richtig Fahrt aufgenommen hat. Dieser tritt dann nämlich erstmal auf Kosten des Erzählflußes in das vom tibetanischen Totenbuch beschriebene erste Stadium nach dem Tod ein, und sieht die wichtigsten Scenen seines Lebens noch einmal an sich vorbeiziehen.
Dies geschieht sehr ausführlich und hat durchaus seinen Reiz, werden hier doch in fesselnden Bildern die glücklichen sowie traumatischen Ereignisse seiner Kindheit gezeigt, die die Grundlage für die intensive Beziehung zu seiner Schwester bilden.
Auch wird Oskars Drogenmillieu, mit seinen psychopathischen Drogendealern und sein freakiger Freundeskreis nocheinmal näher beleuchtet und man hätte gern mehr über die Exoten erfahren, zumahl doch die Gespräche im Freundeskreis über LSD und DMT auf ein fundiertes Erfahrungsrepertoir schließen lassen und den Film sicherlich, wäre man hier etwas mehr in die Tiefe gegangen, um eine spirituelle oder philosophische Note hätten bereichern können. Das Potential bietet das Thema ja zuhauf und die Unterlassung schmerzt ein wenig.
Leider jedoch, und das ist dem Film zum Vorwurf zu machen, weckt Enter the Void in den ersten 25 min. (einschließlich des opening credits) insgesamt zu viele Hoffnungen, die in der zweiten Hälfte dann aber nicht eingelöst werden können.
Anstatt sich zu steigern und zu intensivieren, baut der Film erzählerisch zunehmends ab und versteift sich zu sehr auf den visuellen Aspekt, wobei hier die schwebende Kamera, die die Welt aus Sicht von Oskars Seele einnimmt, der dominierende Aspekt und eigentliche Protagonist des Films wird.
Die psychedelischen Farbenspielereien erreichen jetzt längst nicht mehr das Niveau des Anfangs erwähnten DMT Trips und erinnern eher an die Mätzchen des Lasergewitters der Grossraumdisse im Nachbarkaff oder Andromedanebelspiränzchen besserer Star Trek Folgen.
Auch Darmspiegelungen mit Wackelkontakt haben ähnliche Effekte zur Folge.
Das dies vermeidbar gewesen wäre, zeigt ein Blick in die Extras, in denen die DMT- und Vortexeffekte in erhabener Pracht zu bestaunen sind. Warum es nur ein müder Abklatsch der Vortexeffekte in die Endversion geschafft hat ist mir schleierhaft!!!
Was in der zweiten Hälfte folgt, nachdem sich Oskars Seele vom Körper gelöst hat, ist ein Flug über Tokios Dächer zu seinen Bekannten. So erfärt man dann in fragmentarischer Erzälweise, wie es mit Ihnen weitergeht.
Spätestens ab hier aber bietet der Film keine wirkliche dramaturgische Entwicklung mehr und enttäuscht so die Erwartungshaltung des Zuschauers, der ja immer irgendwie doch auf ein spannendes oder zumindest dramaturgisch ausgefeiltes Finale hinfiebert.
Stattdessen rollt die Geschichte einfach wie eine gebrandete Welle aus und die Protagonisten gehen folgerichtig Ihre Wege.
Oskars von der Bühne des Welttheaters losgelöste Perspektive, übernimmt jetzt zwangsläufig auch der Zuschauer. So betrachtet man die Welt distanziert von oben aus der Vogelperspektive und nimmt die Entwicklungen neutral beobachtend zur Kenntniss.
Das kann, wenn es denn so gewollt war eine gekonnte filmische Finesse sein, ist jedoch nach mindestens 20 min. ermüdend, zumahl die Kamerafahrten von A nach B zu oft einfach aus schwarz/weißen Filmschnipseln bestehen und durch die clipartige, sprunghafte Verknüpfung der einzelnen Sequenzen der Filmfluss schon im Keim erstickt wird. Die Vogelperspektive mag zwar für eine begrenzte Zeit ein legitimes filmisches Gimmick sein, beeindruckt den Zuschauer auch durch seine virtuosität, nutzt sich jedoch schnell ab und vermag nicht über eine gewiße erzählerische Leere, die auch nicht durch immer wieder eingestreute explizite Sexscenen verdeckt werden kann, hinwegzutäuschen.
So hat man dann den Eindruck, daß Noe über seine Beschäftigung mit Kamerafahrten, technischen Schwierigkeiten und außergewöhnlichen visuellen Umsetzungen, den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr gesehen, und so seine primäre Aufgabe, nämlich den Zuschauer an den Film zu bannen, zu sehr aus dem Auge verloren hat.
Am Ende ist der Zuschauer halt nur noch reiner Zuschauer, aber kein Mitfühler mehr. Und meines Erachtens ist es aber immer wichtig, daß IM Zuschauer etwas passiert. Sei es das Mitfiebern bei einer interssanten Geschichte oder das WOW bei visuellen Spektakeln.
Aber einfach nur 70 min. dasitzen, dumm auf die Leinwand glotzen und mir immer und immer wieder die gleichen Kamerafahrten angucken, ist mir, bis auf weiter unten erwähnte Ausnahme, einfach zu wenig.
Zu diesem den Filmgenuß droßelnden Manko, kommt noch erschwerend die Tatsache hinzu, daß die Bildqualität oft an der Grenze des erträglichen ist.
Mit groben Filmkorn kann man ja noch Leben, aber die Verwaschenheit der Bilder läßt auf einen schlampigen Transfer schließen und kann kein filmisches Stilmittel sein. Das gesteh ich höchstens noch der leichten Unschärfe zu, soll diese doch evtl. die jenseitige Losgelöstheit Oskars von der Welt, in der feste Materielle Strukturen und Begrenzungen keine Gültigkeit mehr besitzen, untestreichen.
Noe wäre aber nicht Noe und Noe wäre auch kein (eingewanderter) Franzose, würde er es nicht unterlassen, Oskar in guter alter Spannermanier durch die Betten Tokios zu schleusen. Hier wird in allen Variationen und Abarten gevögelt, was das Zeug hält. Der Übergang von der Vogel- zur Vögelperspektive ist hier also fließend gelungen, und auch wenn das mehr Eigennutz ist und Noe hier Tribut an seine Verpflichtung als Provokatuer zollt, als das es wirklich die Handlung befruchtet, hat mir der neutrale, nicht mehr moralisierende Blick auf die Welt, sehr gut gefallen.
Hier wird das Treiben der Menschen, ohne kulturellen oder historischen Ballast, einfach das Treiben der Menschen sein gelassen, so wie es zu allen Zeiten war und sein wird.
Fazit: Enter the Void wartet mit einer fesselnden Geschichte in der ersten Hälfte auf, die einer von virtuosen Kamerafahrten dominierten zweiten Hälfte weicht und damit deutlich an Fahrt verliert. Inwieweit diese Enttäuschung einer durch Trailer, Filmkritiken und reißerischen Cover zu hochgeschraubte, bzw. falsche Erwartungshaltung geschuldet ist, kann nur durch eine zweite Besichtigung, die der Film auf jeden Fall verdient hat, herausgefunden werden.
Denn Celluloid auf Speed ist Enter the Void definitiv nicht. Das Medikament der Wahl um die zweite Hälfte des Films zu beschreiben wäre wohl eher Valium.
Auch treibt die Formulierung: Ein Film wie Trip treibt die Erwartungen nur unnötig in die falsche Richtung.
Es gibt zwar immer wieder ausgefallene Visuelle Effekte, diese sind jedoch sehr spärlich gesät; und auch ums Trippen, welches außerdem in Filmen wie Der Höllentrip, Der Trip oder Psych Out schon besser behandelt worden ist, geht es weniger. Vielmehr steht eine filmische Umsetzung des Tibetanischen Totenbuchs vor dem Hintergrund eines Underdog Drogendramas im Vordergrund, bei dem jedoch die visuellen und dramaturgischen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden.
Was außer der Enttäuschung aber dennoch bleibt ist Dankbarkeit gegenüber dem Regisseur, den Geldgebern und allen Beteiligten für den Mut und die geistige Offenheit, die notwendig ist, solche außergewöhnlichen Projekte zu Unterstützen und zu realisieren.
P.S.: Unbedingt zu empfehlen sind außer den ungeschnittenen DMT und Vortexeffekten auch der Kurzfilm ENERGIE des deutschen Filmkünstlers Thorsten Fleisch, der auf den Extras enthalten ist.
Mein Plasmafernseher war danach 10 Grad wärmer als sonst....
bewertet am 23.02.11 um 12:31