Geschrieben: 08 Mai 2014 19:06
La vie d'Adéle -
chapitres 1 & 2
von Abdellatif
Kechiche
Einleitung:
Worin zeigt sich Liebe? Was bedeutet
sie für jeden Einzelnen von uns und spielt das Geschlecht dabei
eine Rolle? Gibt es Liebe auf den ersten Blick und wie gehen wir
mit Schmerzen um, wenn ein von uns geliebter Mensch unsere Liebe
nicht mehr erwidert? Oder kann Liebe gar alles überwinden und
selbst eine so kalte Farbe wie Blau Wärme in unseren Herzen
erzeugen? Der letztjährige Palm d'Or Gewinner "La vie d'Adéle -
chapitres 1 & 2", zu Deutsch "Blau ist eine warme Farbe", hat
auf alle diese Fragen eine ehrliche und zutiefst berührende Antwort
und offenbart uns eine der hinreißendsten Liebesgeschichten
vergangener Jahre.
Inhaltsangabe:
Adéle ist eine
17-jährige junge Frau, die das Gefühl hat, sich selbst etwas
vorzumachen, zwar weiß sie um die Zuneigung des menlichen
Geschlechts, kann diese jedoch nicht mit ihren Gefühlen erwidern.
Als sie zufällig auf der Straße der blauhaarigen Studentin Emma
begegnet, ist sie wie elektrisiert und angezogen von dieser Frau.
Sie spürt etwas, was sie stets zu missen wusste und fortan entdeckt
sie Sehnsüchte, die sie gemeinsam mit Emma auslebt.
Filmbesprechung:
"Blau ist eine warme
Farbe" basiert lose auf der Graphic Novel von Julie Maroh, dabei
ist Regisseur Abdellatif Kechiche in seinen Filmen immer auf der
Suche nach der Wahrheit, nach dem Lösen der aufgebauten Fassade und
Maske im Leben und so dreht er sein Liebesdrama auf sehr natürliche
Weise, hier gibt es überwiegend Großaufnahmen von Gesichtern und
Körpern, wenige Schnitte unterbrechen den Filmfluss und er bleibt
seiner naturalistischen Inszenierung in jeder Minute treu, denn
sowohl Menschen als auch Umgebung werden hier ungeschönt und
realistisch (die Darstellerinnen trugen z.B. keinerlei Set-Make-up)
dargestellt, im Kern banale Themen zwischen den Dialogzeilen
aufgegriffen und hintergründig mit Problemen zwischen
Unterschicht/Oberschicht der Kontrast ästhetisiert.
In dem Moment, wenn Adéle, die auf dem Weg zu einer Verabredung mit
einem Mann ist, ganz zufällig der Kunststudentin Emma begegnet,
dann stoßen hier zwei verschiedene Gesellschaftskreise aufeinander,
die sich in ihrem Kontrast gegenseitig anziehen, gleichzeitig aber
auch von einander entfernen. So ist die Protagonistin Adéle aus dem
Proletariat (schlichtes Elternhaus, Spaghetti als Festmahl,
gefangen in klassisch, traditionellen Idealen ect.), während Emma,
eine Künstlerin, der Oberschicht angehört (starker Drang zur Kunst,
in wohlhabenderen Kreisen gern gegessene Austern, Brechen aus
sexuell, sozialpolitischen Idealen ect.) und dennoch herrscht trotz
dieser "Komplikationen" ein gegenseitiges Verlangen
nacheinander.
Dabei ist die homosexuelle Liebe vollkommen unwichtig, Abdellatif
Kechiche selbst sei enttäuscht gewesen, dass sein Film von Teilen
seines Publikums als "Queer"-Film angesehen werde. Kechiche's
Inspiration dieses Werk zu verfilmen war es die wunderbare,
natürliche Liebe zu zeigen, Schicksale und Zufälle, wie auch
Schmerz und Leid darzustellen, dabei ist die homosexuelle Beziehung
nur ein Deckmantel, der sich im Hintergrund abspielt. Im Innern
wird die Liebe in Verbindung mit der Wahrheit, welche bereits in
seinem Film "La graine et le mulet" Anklang fand,
präsentiert, denn wenn Adéle direkt nach dem Sexakt mit einem
männlichen Partner merkt, dass sie kein Gefühl der Besänftigung,
der Offenbarung, letztlich der Liebe erfährt und selbst der
Orgasmus sich nicht in seiner vollen Kraft entfalltet, dann wird
sie mit der bitteren Wahrheit konfrontiert, dass sie sich selbst
etwas vorspielt und sie in ihrer derzeitigen sexuellen Orientierung
kein Glück finden kann.
Mit Emma tritt jene Emotionalität von der ersten Begegnung an ein,
die Nacht darauf träumt Adéle gar von einem geschlechtlichen Akt
mit dieser blauhaarigen Schönheit, während sie sich dabei
gefühlvoll und voller Hingabe bis zur Ekstase masturbiert.
Auch Emma ist von der jungen Schülerin fasziniert und in dem
Moment, wenn sie Adéle in einer Lesbenbar bemerkt, scheut sie sich
in keinster Weise, spricht sie direkt an und führt eine
Konversation über Kunst (Literatur) und recht banale Dinge. Dies
ist der Beginn einer Beziehung, welche Lust und Freiheit, Liebe und
Trauer, Schmerz, Streit und Versöhnung den ganzen Film über trägt
und somit die gesamte Palette einer Liebesbeziehung vorzeigt.
Dabei hilft Kechiche's inszenatorischer Stil dieser Beziehung eine
emotionale Nähe zum Publikum zu verschaffen, denn gerade die im
Diskurs umstrittenen, expliziten Sexszenen zwischen den beiden
Frauen schaffen eine starke Intimität, sodass wir uns ganz dem
Verlangen und der Obssession der beiden Frauen hingeben
können.
Erstmals wurde die Palm d'Or nicht nur an den Regisseur, sondern
auch an die beiden Hauptdarstellerinnen vergeben (Jurypräsident
Steven Spielberg begründete dies, dass der Regisseur ohne seine
beiden Darstellerinnen diesen Film in keinster Weise hätte so
realisieren können) und das vollkommen verdient, denn Kechiche
selber sagte in Interviews, dass er bei Castings ganz strikt nach
der für ihn perfekten Chemie auf der Suche war, welche er vom
ersten Moment an in Adéle Exarchopoulos und Léa Seydoux gefunden
hat und so hat er die Figur der Protagonistin auch voll und ganz
auf Adéle zugeschnitten, die nicht umsonst im Film denselben Namen
trägt (was übrigens einer der vielen Unterschiede zur Vorlage ist),
auch haben die beiden Darstellerinnen die gleichen Ideale und
kommen aus derselben Gesellschaftsschicht wie ihre Figuren.
Und was die beiden auf die Leinwand "zaubern", ist lebensnahe und
gerade dadurch so hochintensiv; hier stimmt die Chemie in jeder
noch so kleinen Geste und Mimik, bei den Sexszenen herrscht eine
permanente erotisch aufgeladene Spannung und ihre Begegnungen sind,
ganz gleich ob Freude oder Trauer, zu jeder Sekunde glaubhaft, ihre
Konfrontationen explosiv und natürlich; ganz großes und prägnantes
Schauspielkino!
Sowohl die Anfangs-, als auch die Endszene stehen schließlich in
einer obligaten Symbiose und beim Abspann wird der Zuschauer aus
einem der ehrlichsten, natürlichsten und wundervollsten Filme über
die Liebe, Sehnsüchte und Selbstfindung gelassen.
10/10 - Meisterwerk
Zum Bild:
Am Bild gibt es nichts auszusetzen,
perfekte Detailzeichnung, sensationelle Schwarzwerte, toller
Kontrast mit schon fast aus dem Fernseher springenden, plastischen
Aufnahmen (2.35:1). Keine Doppelkonturen bei gelegentlichen
Wackelkamera-Szenen.
Kurz: Perfektes Bilderlebnis
10/10
Zum Ton:
Auf der Blu-ray finden sich zwei
Tonspuren, die Deutsche und Französische, beide liegen im DTS-HD
Master-Audio 5.1 vor und bieten eine stimmungsvolle und vom Klang
her dezente Untermalung, wie üblich bei (Arthaus-)Dramenfilmen
liegt der Fokus ganz auf den Dialogen, welche hier zudem immer klar
und verständlich transportiert werden.
Erstaunlich ist dabei wie gut auch die deutsche Synchro
funktioniert, die guter und "frische" Sprecher bietet und selbst
das Textbuch ist dem Original sehr ähnlich. Dennoch ist auch hier
die Original-Tonspur zu empfehlen, da die gesamte Stimmung noch
besser zum Tragen kommt.
Das einzige Manko war, dass im Original-Ton ein, zwei Szenen
deutlich leiser abgemischt waren, was aber anhand von Untertiteln
das Filmerlebnis nicht trübt.
8/10
Zur Ausstattung:
Die Extras sind anhand der
Begeisterung der Presse und Klasse dieses Werkes leider insgesamt
enttäuschend. Es gibt drei Interviews mit dem Regisseur Abdellatif
Kechiche und den beiden Hauptdarstellerinnen Adéle Exachorpoulos
und Léa Seydoux, in denen es um den Dreh, die Inszenierung,
Motivation/Inspiration und Rollenanalysis geht. Weiter gibt es drei
zusätzliche Szenen, die ihren Weg nicht in den finalen Schnitt
gefunden haben, sind aber mehr Randnotiz und nur eine wirklich
relevant, die so auch hätte den Weg in die finale Fassung finden
können. Auch der deutsche Trailer ist mit an Bord, ansonsten noch
Trailer zu aktuellen Filmen von Alamode Filmverleih (Moliere auf
dem Fahrrad, Gabrielle, Finsterworld ect.)
Von einem ausführlichen Making-Of, gerade wo der Dreh doch als so
intensiv und hart angesehen wurde, fehlt jegliche Spur, auch ein
Audiokommentar, der sich hier perfekt anbieten würde ist nicht zu
finden. Zusätzlich gleicht es einem Mysterium, dass auf dem Cover
eine "Special Edition mit Bonus" geworben wird, man aber bis auf
die oben genannten Extras, die zudem seit 5 Monaten bekannt sind,
keinerlei spezielle Extras zu finden vermag, weder ein Booklet,
noch eine anderweitige Zugabe. Wenigstens hat sich Alamode-Film
auch für diesen Film für ein Wendecover entschieden (wobei deren
Filme grundsätzlich Wendecover besitzen).
6/10
Fazit:
"La vie d'Adele" ist ein meisterhafter Film über
das Erwachen, die Liebe und (sexuelle) Selbstfindung, welcher durch
seine naturalistische Note für eine starke Emotionalität zum
Zuschauer sorgt und mit seinen überragenden Darstellerinnen zwei
der interessantesten und schönsten Frauenporträts der vergangenen
Jahre darstellt, dabei ist die 179 minütige Liebesgeschichte jede
einzelne Minute faszinierend. Bild und Ton können sind dem Film
würdig, leider fehlt es an Bonusmaterial und der versprochene
Special Edition Bonus ist nicht zu finden.
9/10
Meine Top-3 2016(so
far):
1.
The Assassin
2.
The Revenant
3.
Anomalisa
Most Wanted:
It's Only the End of the World, Son of Saul, The Neon
Demon, Der Nachtmahr, Der Schamane und die Schlange, Arabian
Nights, A Lullaby to the Sorrowfull Mystery
Geschrieben: 09 Mai 2014 08:07
Bei dem Film hab ich auch schon ab und an überlegt ob der was für
mich sein könnte - die 180 Minuten schrecken mich aber immer noch
ein bisschen ab. Der liegt dann nur ewig in der Ecke.
Bleibt aber auf jeden Fall auf der Merkliste;) - schönes
Review:thumb:
Alex
How do you go on... when in your heart you begin to understand...
there is no going back? There are some things that time cannot
mend... some hurts that go too deep... that have taken hold.
When you find that one person who connects you to the world, you
become someone different, someone better. When that person is taken
from you, what do you become then?
Geschrieben: 09 Mai 2014 09:35
Zitat:
Zitat von TrondeAkjason
Bei dem Film hab ich auch schon ab und an überlegt ob der was für
mich sein könnte - die 180 Minuten schrecken mich aber immer noch
ein bisschen ab. Der liegt dann nur ewig in der Ecke.
Bleibt aber auf jeden Fall auf der Merkliste;) - schönes
Review:thumb:
Das ist wirklich für einige eine Herausforderung, auch die
Sexszenen gehen den einen deutlich zu lang, die anderen finden sie
genauso passend von der Laufzeit.
Dadurch, dass die Exposition des Filmes wirklich verdammt lange ist
und über eine normale vollkommen hinaus geht, kann es auf einige
vielleicht auch ermüdend wirken, man muss sich auf alle Fälle voll
und ganz drauf einlassen, sonst findet man keinen Zugang.
Danke dir :)
Meine Top-3 2016(so
far):
1.
The Assassin
2.
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3.
Anomalisa
Most Wanted:
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Demon, Der Nachtmahr, Der Schamane und die Schlange, Arabian
Nights, A Lullaby to the Sorrowfull Mystery
Geschrieben: 09 Mai 2014 11:56
Blu-ray Papst
Aktivität:
Forenposts: 12.897
Clubposts: 330
seit 22.11.2008
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Sony PlayStation 4
Blu-ray Filme:
PS 3 Spiele:
PS 4 Spiele:
Steelbooks:
39
Mediabooks:
10
Bedankte sich 1098 mal.
Erhielt 1439 Danke für 1137 Beiträge
Perspektivlos Test your Luck
Danke für das Review, werde mir nun auch mal ein Bild vom Film
machen!
Geschrieben: 09 Mai 2014 17:58
Blu-ray Profi
Aktivität:
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seit 09.03.2012
LG 55SK8500
Panasonic DP-UB154
Blu-ray Filme:
Steelbooks:
64
Mediabooks:
110
Bedankte sich 36 mal.
Erhielt 58 Danke für 19 Beiträge
Hört sich nach einem echt tollen Stück Kino an, was dein Review
nochmals total bekräftigt und wirklich wunderbar die einzelnen
Punkte heraus schält, die den Film scheinbar so stark machen.
Wunderbar zu Lesen und inhaltlich sehr bereichernd!!
Besonders finde ich, dass es nicht mehr um die Homosexualität
selbst geht, sondern diese schon gereift als selbstverständlich
erachtet wird und vielmehr um die Beweggründe der Liebe selbst
geht! Hört sich wirklich nach einem tollen, menschlichen Geschichte
an, die nicht mehr so stark nach Toleranz sucht sondern sich schon
einen Schritt weiter, ihren Facetten widmet.
Als ich erstmals davon hörte, wusste ich nicht das dieser 180
Minuten läuft - hätte ich nicht erwartet! Hört sich auf jeden Fall
spannend an!
DANKE für das wunderbare Review!
Geschrieben: 09 Mai 2014 18:15
Danke dir :)
Ich bin im Kino damals auch wirklich fast aus dem Kinosessel
geschmolzen ob dieser wundervollen Geschichte und gerade der
Aspekt, dass die Homosexualität lediglich in 1 - 2 Szenen
konfrontiert wird, ansonsten jedoch spielt diese Beziehung und das
Erwachen von Gefühlen, die Liebe als universale Kraft, die größte
Rolle, was schon in Laurence Anyways der Fall war, wo Dolan
keinerlei biologische Prozesse aufzeigte, sondern die Liebe und
Beziehung zwischen beiden Protagonisten über ein Jahrzehnt lang
inszeniert.
Nochmals danke für deine Worte :)
Meine Top-3 2016(so
far):
1.
The Assassin
2.
The Revenant
3.
Anomalisa
Most Wanted:
It's Only the End of the World, Son of Saul, The Neon
Demon, Der Nachtmahr, Der Schamane und die Schlange, Arabian
Nights, A Lullaby to the Sorrowfull Mystery