Der Friedhof der Freundschaft
Es ist 9:18 Morgens. Ich finde, die Zeit ist gut. Die Party bis eben auch. Es ist hell draussen. Der Schnee hat die Stadt zugedeckt. Das steht ihr, und Sie scheint munter zu schlafen. Ich bin immer noch wach…
Eine Erinnerung an alte Schultage blasst auf, an denen ich um die Uhrzeit die Pause um 9:25 nicht erwarten konnte. Es war immer große Pause. 15 Minuten ohne Klassenzimmer, ohne Schulgelände. Als Raucher musste man sich früher immer vor den Lehrern verstecken. Wir sind dazu in einen angrenzenden Park auf einen Spielplatz gelaufen. Natürlich nur, wenn sich dort keine Kinder aufhielten.
Dort war es immer so schön ruhig. Keine kreischende, rennende, tollende, Fußballspielende, rempelnde Kinder. Wir Jungs aus der Mittelstufe hielten uns für soviel älter.
Wir haben den Platz gemocht. Ich erinnere mich nicht mehr daran, wieviele wir waren, aber wir hatten immer Spaß. Wir teilten Freude und Trauer wie Zigaretten und Pausenbrot. Und jeder war auf seine Weise einzigartig.
Was für eine intensive Zeit. Ich denke, jeder von uns hat früher seine Gruppenphase gehabt. Leute, mit denen man sich einfach auf einem Platz getroffen hat. Ohne sich absprechen zu müssen. Mit Fahrrädern sind wir angefahren gekommen, mit Cityscootern, Inline-Skates, zu Fuß. Was waren wir aufgeregt, als der Erste 16 war und einen eigenen Roller besaß. Nach langem Betteln erlaubte er mir, unter seiner Führung eine Runde auf dem Schulhof fahren. Das Gefühl, am Gashahn zu ziehen und vorwärts zu kommen…nie schien fortbewegen einfacher.
Doch fortbewegen ist eine gefährlich einfache Angelegenheit.
Ich hatte damals einen „besten“ Freund. Bester Freund, weil er wirklich der Beste war. Wenn mich ein Klassenkamarad bedrängte, hat er mich befreit. Als ich mal einen schlechten Tag hatte, und nicht zu Hause schlafen wollte, nahm er mich auf. Beim Fußballspielen auf dem Platz waren wir das Team oder spornten uns als Rivalen umso mehr an. Jede Kombination in jeglicher Hinsicht brachte Spaß.
Denkt mal zurück an Eure Zeit. Es gab bestimmt einen Menschen, mit dem ihr mehr Zeit verbracht habt als mit irgendwem anders. In einer Zeit, in der ihr alles Andere gemacht habt, nur nicht über Eure Zukunft nachzudenken. Und diese Person ein fester Bestandteil Eures Daseins war.
So einer war er. Wir haben alles geteilt. Und wir haben viel voneinander gelernt. Man erlebt eine völlig neue Art der Selbsterkenntnis, wenn man sich einer Person vollkommen preisgibt. Dinge, die man sonst nicht auszusprechen wagt, fallen einem kinderleicht (weil wir noch Kinder waren?). Dieses Herantasten in ein neues Feld, ist ein sehr wichtiger Schritt auf dem Weg des Erwachsenwerdens. Ich habe ihn Vertrauen getauft. Und wir haben diesen Schritt gemeinsam mit Bravour gemeistert.
Doch gibt es in der Pubertät bei Jungen neben der Selbsterkenntnis ein weiteres, nicht unprägsames Thema: Das Mädchen.
Und die gab es auch bei ihm. Ich freute mich für ihn. Erste Erfahrungen sammeln. Erstes Mal küssen. Erstes Mal ein Mädchen daten. Erstes Mal Sex. Man kann es drehen und wenden, aber in einem Alter, das noch keine 2 vor der 0 gesehen hat, ist es eines der interessantesten Themen im Leben eines Teenagers. Das merkte man am schnellen Themenwechsel. Der erste Junge mit einem Roller weichte dem ersten je bemerkten Busen. Fc Bayern wurde so rasant wie Michael Schumacher durch The Dome (/Top of the Pops), Deos und Parfüm ersetzt. Innerhalb von 2 Monaten wurde das Fahrrad durch einen Bus ersetzt. Mit dem Fahrrad durch die Stadt fahren war plötzlich uncool. Ein Mp3 Player musste her, um überall Musik zu haben. Dauerbeschallung zum Abschalten (Leider geht manchmal der „Anschalten“-Knopf dabei kaputt, am Rande bemerkt). Der Drogeriemarkt wird als kostenlose Duft-Spray-Anlage benutzt. Wir bemerken plötzlich, dass wir stinken, und duschen uns nach dem Fußballspielen und Albernheiten machen jetzt öfter.
All das war neu. Und irgendwie interessant. Doch ich wusste, dass etwas hier gegen eine Wand rennt. Zu viele Veränderungen auf einmal. Wenn auf jedes kleine Detail eine Reaktion folgt, wird man euphorisch. Es werden mehr Dinge abgeändert, als notwendig. Man spielt sich auf. Man pumpt sich auf. Der Aufmerksamkeitskick wird zur neuen Jugenddroge. Und dass ich das bin, der in die Wand läuft, wurde mir erst beim Aufprall bewusst.
Ich habe die Veränderungen mitdurchlebt. Weil wir alles miteinander gemacht haben. Auch wenn ich Sie nicht in allen Teilen gut geheissen habe. Doch mir fehlte etwas. Und als ich gegen die Mauer krachte, war mir bewusst, dass ich das fehlende Puzzle nicht bei mir suchen kann. Durch das ständige Miterleben habe ich vergessen, selbst zu erleben.
Mein Freund und ich,
aus wir wurden er und mich.
Ein „Ich“ hatte ich in diesem Moment nicht.
Er hatte dieses Mädchen gefunden. Und mich (aus den Augen) verloren. Er hat sich fortbewegt. Entwickelt hat er das genannt. Ich nannte es im Stich lassen.
Der erste Streit ließ nicht lange auf sich warten. Und so kommt es, dass im Laufe der Zeit aus Freundschaften Bekanntschaften werden, die langsam entgleiten.
So gefährlich schnell kann Fortbewegen sein…
Um diese Erfahrung reicher, war ich auf den daraufhin folgenden Zusammenbruch der eingeschworenen Gemeinschaft der Spielplatz-Gänger vorbereitet. Wir hielten uns nicht mehr für älter, wir waren es und wollten es nicht wahrhaben. Wenn eine Veränderung in der Gruppendynamik einhergeht, löst das oftmals eine Kettenreaktion aus. Der Rest passiert ziemlich schnell. Schlechte Nachrichten, als ob wir Sie schon ewig vor uns hergeschoben hätten, scheinen sich im Minutentakt immer kreativere Wege auszudenken, unserer Gemeinschaft ins Mark zu schneiden. Ein weiterer Freund beschließt, mehr Zeit mit seiner Freundin zu verbringen. Ein Mädchen aus der Gruppe erzählt weinend, Sie müsse wegziehen. Sie hat Angst vor diesem Schritt, alles Neu. Tränenreicher Abschied in der darauffolgenden Woche. Aus dem 16jährigen mit Roller wird ein 18jähriger mit Auto, der mehr Spaß am Autofahren hat. Ich habe mein Fahrrad wieder aus dem Keller geholt und bin schneller in der Stadt als mit dem Bus.
Wir verlieren die Motivation, Treffen werden unregelmäßiger. Irgendwo sehen wir auch, dass dieses Kapitel dem Ende zu geht. Manche haben das Gefühl früher, manche später. Interessen entwickeln sich. Oder bilden sich gar von Neuem?
Freundschaften muss man Pflegen.
Wir kommen, wir gehen, wir verkehren, wir laufen, wir bewegen uns fort. Wir setzen einen Fuß vor einen anderen und machen damit einen Schritt. In eine richtige oder in eine falsche Richtung. Oder im Kreis.
Wenn man bedenkt, wieviele Schritte wir planen und wieviele wir tatsächlich gehen…kommen wir da nie auf einen gemeinsamen Nenner. Menschen sind dazu gepolt, zu überlegen und eine Lösung zu finden. Das bedeutet, Ideen zu sammeln, zu vergleichen, zu bewerten, verwerfen, und letztlich anzuwenden. Aber ist das nicht manchmal auch schon ein Schritt? Heisst es nicht oft genug: „Der Weg ist das Ziel“?
Wenn man sich ändert oder ändern will, was passiert dann? Neues kommt und Altes geht? Es heisst sprichwörtlich eben doch nicht umsonst, dass wir „einen neuen Weg einschlagen wollen“. Denn auf dem neuen Weg bleibt der Alte quasi auf der Strecke. Doch sollten wir dann Gedanken an Altes wegsperren? Sind wir der Gedanke?
……
8 Jahre später, war ich in dem Park spazieren. Ich habe mich auf die Bank gesetzt, auf der wir früher saßen. Bei kühlem Herbstwetter zündete ich mir die Zigarette an. Es war so leise, dass ich mich selbst beim Ausatmen gehört habe. Ich ließ den Blick über die Parkanlage schweifen. Und da entdecke ich 3 Grabsteine in der Nähe eines Baumes. Ein kleiner Ort der ewigen Ruhe. Wie passend. Wo Freundschaft entstand, da wurde Sie letztendlich begraben. Interessant, so ein Besuch in der Vergangenheit. Ich frage mich, was Sie heute wohl machen. Doch als ich die Zigarette ausdrücke, verwerfe ich den Gedanken wieder. Ich gehe zurück zu meinem Auto und fahre davon. Doch jedes Mal, wenn ich rauche, haftet an einer Zigarette auch eine Erinnerung.
Heute haben wir mittlerweile 10:27.
Und ich gehe jetzt eine Rauchen.
Ende.
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Hattet ihr mal eine besondere Freundschaft, erinnert Euch. Erinnert Euch und dankt dafür. Entweder im Stillen nach Beenden des Textes, oder im Lauten, falls ihr die Glücklichen seid, die solch eine Freundschaft erfolgreich gepflegt haben.
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