Nochmal offiziell aus der c't: Ja, der
Jugendmedienschutz-Staatsvertrag ist gescheitert:
Zitat:
Zurück auf Los
Die neuen Jugendschutz-Regeln fürs Web kommen doch
nicht
Ein novellierter Jugendmedienschutz-Staatsvertrag sollte dafür
sorgen, dass alle deutschen Website-Betreiber ihre Inhalte
klassifizieren müssen. Die Neuregelung ist gescheitert, damit steht
die Jugendschutz-Politik vor einem Scherbenhaufen.
Kurz vorm Zieleinlauf hat der nordrhein-westfälische Landtag den
novellierten Jugendmedienschutz-Staatsvertrag (JMStV) zu Fall
gebracht. Die umstrittene Neuregelung für den Jugendschutz im
Internet benötigte als sogenannter „Änderungsstaatsvertrag“ die
Mehrheit in allen 16 Länderparlamenten. Mit der einstimmigen
Ablehnung durch die NRW-Parlamentarier ist sie vom Tisch und muss
nun von Grund auf neu verhandelt werden.
Das Ergebnis kam zustande, weil die CDU-Landtagsfraktion zwei Tage
vor der Abstimmung am 16. Dezember erklärt hatte, gegen den Vertrag
stimmen zu wollen. Dies war überraschend, weil noch im Juni der
damalige CDU-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers dem Vertragstext
ohne Einschränkung zugestimmt und ihn unterschrieben hatte.
Regierung und Opposition in NRW warfen sich gegenseitig vor,
parteitaktisches Verhalten über die staatspolitische Verantwortung
zu stellen. Andreas Krautscheid, medienpolitischer Sprecher der
CDU-Fraktion in NRW, erklärte aber auch, seine Fraktion habe
Besorgnisse ernst genommen, „die in der Parlamentsanhörung am 4.
November von Experten geäußert wurden“. Man habe nun Zeit,
„Unklarheiten im Vertrag zu beseitigen und die Pflichten aus dem
Vertrag besser zu kommunizieren“. Die Netzgemeinde habe einen
Anspruch auf Präzision und Rechtssicherheit bei neuen
Gesetzen.
Schwächen und Unklarheiten
Die Novellierung des JMStV war umstritten, weil sie de facto eine
Klassifizierungspflicht für jeden Website-Betreiber vorsah. Jeder
hätte seine Inhalte daraufhin überprüfen müssen, ob sie gemäß den
aus dem Filmbereich bekannten Altersfreigaben (ab 0, 6, 12, 16 und
18 Jahren) „entwicklungsbeeinträchtigende“ Wirkung entfalten
könnten. Ansonsten hätte man ab 1. Januar 2011 riskiert, juristisch
belangt zu werden. Denn falls man tatsächlich derlei Content
vorhält, hätte man dem neuen JMStV zufolge entweder den Zugang dazu
für Jugendliche erschweren, den Content nur nachts abrufbar halten
oder ihn gemäß einer Spezifikation kennzeichnen müssen.
Kommerziellen Anbietern hätten ansonsten Abmahnungen von
Mitbewerbern gedroht.
Trotz der jahrelangen Vorbereitungszeit attestierten Rechtsexperten
der JMStV-Neufassung handwerkliche Schwächen und Unklarheiten. Der
Juraprofessor und Richter Thomas Hoeren etwa hatte gemutmaßt, „dass
hier „Legastheniker“ am Werke waren, die erst nach mehrfachen
Anläufen ihr Jurastudium an irgendeiner C-Universität zu Ende
gebracht haben.“ Er hatte im Vorfeld der Entscheidungen gefordert,
„den Unsinn zu stoppen“.
Auch die technische Umsetzung machte einen unausgereiften Eindruck.
Die Kennzeichnung sollte aus einer Datei namens age-de.xml
bestehen, die im Root-Verzeichnis des Servers liegen muss –
Webauftritte, die nicht unter eigener Domain laufen, wären also
ausgeschlossen gewesen. Eine optionale Kennzeichnung per
HTTP-Header oder Meta-Tag sollte die XML-Datei nur ergänzen, nicht
ersetzen.
Der Standard hätte ermöglicht, komplette Websites zu kennzeichnen
und zugleich einzelne Bereiche oder HTML-Seiten separat
einzustufen. Werkzeuge, um die Kennzeichnungsdatei zu generieren,
hätte es zum 1. Januar aber ebenso wenig gegeben wie
Filtersoftware, die diese ausgelesen hätte. Für das XML-Format
existiert nicht einmal ein Schema, mit dem Website-Betreiber die
Gültigkeit ihrer Kennzeichnung hätten prüfen können.
Drohgebärden
Federführend zuständig für die technische Umsetzung der neuen
JMStV-Regelungen im Internet war die Freiwillige Selbstkontrolle
Multimedia-Diensteanbieter e.V. (FSM). Sie sah in der Option der
Alterskennzeichnung „einen progressiven und pragmatischen Schritt“,
der nun nicht umgesetzt werden könne. Die Vorstandsvorsitzende der
FSM, Gabriele Schmeichel, hofft, „dass die guten Ansätze aus der
Novellierung und die Vorarbeiten der letzten Monate nun nicht
gänzlich in der Versenkung verschwinden“.
Ministerpräsident Kurt Beck fordert, dass die KJM bei Verstößen
gegen den JMStV nun Sperrverfügungen erlässt. Vergrößern Bei der
Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) als Aufsichtsgremium
herrscht ebenfalls Ernüchterung. Man habe „in den letzten Monaten
intensiv an der praktischen Umsetzung der Novelle gearbeitet, um
die Neuregelungen mit Leben zu erfüllen“, heißt es in einer
Mitteilung. Die KJM bedauere das Scheitern, „dennoch kann sie
vieles, das bereits erarbeitet wurde, als Grundlage für die
Weiterentwicklung des Jugendmedienschutzes nutzen“. Beide
Institutionen betonten ausdrücklich, dass die seit 2003 gültige
Version des JMStV nun auch über den 1. Januar 2011 hinaus Bestand
habe. Es entstehe „kein rechtsfreier Raum“, erklärte die KJM.
So sieht es auch der federführend an der Novellierung beteiligte
Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck. „Mit der alten
gesetzlichen Regelung sind die Anbieter weiterhin auf die derzeit
gültigen Sendezeitgrenzen im Netz angewiesen, die auch die
Informationsfreiheit der erwachsenen Nutzer deutlich einschränken“,
sagte der Ministerpräsident. Beck, der auch Vorsitzender der
Rundfunkkommission ist, kündigte an, dass nun „die staatliche
Regulierung von oben Platz greifen wird. Basierend auf den
derzeitigen rechtlichen Grundlagen werden die Jugendschutzbehörden
Sperrverfügungen erlassen“.
Die bislang und nun auch weiterhin gültige Regelung von 2003 fand
im Web kaum Beachtung, Verstöße wurden nicht geahndet. Zu absurd
und weltfremd schien beispielsweise der Gedanke, private
Blogbetreiber, die keine Sendezeitbeschränkung einhalten, zu
sanktionieren. Lediglich vereinzelt findet man derzeit
Sendezeitschranken, so etwa in den Mediatheken der
öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten. Beck fordert nichts anderes,
als Verstöße gegen die weltfremden JMStV-Regeln ab sofort zu
ahnden. In der Folge könnte sich die Ablehnung des neuen JMStV
gerade für die „Netzgemeinde“ als Pyrrhussieg erweisen.