Review: Inception
16. September 2010Diese Review gibt Einblicke in den Film und sollte daher nicht gelesen werden, wenn der Film noch nicht gesehen worden ist. Die Spoiler sind zwar nur leicht und nicht plotbezogen, dennoch sei an dieser Stelle gewarnt.
Regisseur Christopher Nolan verblüffte uns im Jahre 2000 mit dem raffinierten und großartigen Film MEMENTO, ein narratives Puzzle im Rückwärtsgang, voller Verschachtelungen und parallelen Strängen. Kurz darauf begann er offensichtlich mit den ersten Entwürfen für einen weiteren Film, den man getrost auch als „Mind Fuck“ bezeichnen kann. Zehn Jahre und vier weitere fantastische Filme später ist das Werk nun vollbracht, und INCEPTION wartet darauf, vom verwöhnten Publikum begutachtet zu werden.
Worum geht es in INCEPTION – von Nolan im Vorfeld geheimnisvoll mit contemporary sci-fi action thriller ,set within the architecture of the mind‘ beschrieben – eigentlich?
Cobb (Leonardo DiCaprio) ist ein Dieb. Seine Spezialität ist die so genannte „Extraction“: er dringt in die Träume anderer ein, um ihnen Ideen und Geheimnisse zu stehlen – eine Art Wirtschaftsspionage 3.0. Der mächtige Firmenboss Saito (Ken Watanabe) möchte Cobb allerdings für einen ganz anderen Job. Nicht stehlen soll er eine Idee, sondern selbige in das Bewusstsein der Zielperson einpflanzen – „Inception“. Diese Prozedur gilt als schwierig bis unmöglich, doch Cobb ist der Meinung, den Job durchführen zu können, denn nur mit der Hilfe von Saito kann Cobb wieder in seine Heimat zurückkehren…
INCEPTION hat naturgemäß mit einigen Problemen zu kämpfen. Die Schwierigkeit eines jeden Sci-Fi-Filmes ist, dass der Zuschauer zunächst die Gesetze und wenn man so will die Physik des vorgestellten Universum kennenlernen muss, um halbwegs die Handlung mit Verständnis verfolgen zu können. Dafür nimmt sich Christopher Nolan eine gute Stunde ausführlich Zeit und führt den unwissenden Zuschauer, repräsentiert durch die Studentin Ariadne (Ellen Page), wie in einem Tutorial zu Beginn eines Computerspiels, in die Traumwelt ein. Diese Einführung ist recht dialoglastig, aber durch die beeindruckenden Geschehnisse und Effekte glücklicherweise nicht langweilig.
Sobald die Möglichkeiten des INCEPTION-Universums abgesteckt wurden, werden wir in die eigentliche Handlung, die in klassischer Heist-Movie Manier daherkommt, hineingeworfen. Cobb engagiert als Mastermind ein Spezialistenteam, u. a. die genannte Ariadne, welche als Architektin die Traumlevels erstellen soll, in welchen sie die Zielperson, Robert Fischer (Cillian Murphy), Erbe eines sterbenden Energiegiganten, bearbeiten wollen. Mit von der Partie sind Arthur (Joseph Gordon-Levitt), eine Art Mr. Wolf für alle Fälle und Hauptdarsteller in einer der coolsten Kampfszenen der neueren Filmgeschichte, der Verwandlungskünstler Eames (Tom Hardy) sowie der Apotheker und Betäubungspezialist Yusuf (Dileep Rao) und der Auftraggeber Saito persönlich.
Das Verfahren bei Extraction/Inception funktioniert wie folgt: über eine Apparatur werden der Träumer und die Träumenden gemeinsam verkabelt und gelangen dadurch in die konstruierte Welt, welche sich in einem Zwischenstadium des menschlichen Bewusstseins befindet.
Zwei „Gesetze“ der Prozedur sorgen für die nötige Würze: erstens ist es möglich, im Traum selbst die Apparatur erneut zu aktivieren, und dadurch einen Traum im Traum zu generieren (was auch immer weiter verschachtelt werden kann), und zweitens läuft die Zeit in den Traumebenen langsamer ab: je tiefer die Ebene, desto langsamer. Die beste Szene des Films spielt genau mit diesem Prinzip und ist eine meisterliche und ungemein spannende Montage, welche in der ersten Ebene nur wenige Sekunden dauert, während sich in den unteren Ebenen die Ereignisse länger ziehen und überschlagen.
Zu der Komplexität des Ganzen kommt noch Cobbs Vergangenheit um seine verstorbene Frau Mal (Marion Cotillard) dazu, welche in seinem Unterbewusstsein wie eine Zeitbombe tickt und dadurch in seinen Träumen an die Oberfläche durchzuschlagen droht.
Soviel als kurzer Einblick in die Handlung des Films, der zweifellos dem Zuschauer einiges abverlangt, ohne aber zu kompliziert zu sein. Ich wurde in dieser Hinsicht sogar fast enttäuscht, da der Film viel simpler konstruiert ist, als ich erwartet hatte. Den roten Faden kann man hier viel einfacher fokussieren als in MEMENTO. Dennoch ist INCEPTION raffiniert und steckt voller Details, die man im Anschluss gerne genauer ergründen möchte: der zweite Kinobesuch ist dadurch für einige schon vorprogrammiert – ich habe ihn bereits ein zweites Mal gesehen. Das Verständnis ist schon nach der ersten Sichtung da, aber die Aufmerksamkeit auf Kleinigkeiten, philosophische Aspekte, eventuelle Handlungslöcher, die ist beim zweiten Mal wesentlich höher.
Was mir an INCEPTION gefällt
Christopher Nolan liefert uns einen visuell und inhaltlich beeindruckenden und extrem spannenden Mix aus Spionagefilm, Heistmovie, Sci-Fi und Action-Thriller. Sein klarer, fast klinischer Stil, der bereits in THE DARK KNIGHT stark herauskristallisiert war, wird auf die Spitze getrieben und scheint nach wie vor stark beeinflusst zu sein von Michael Mann (HEAT). Technisch auf allerhöchstem Niveau, zeigt Nolan uns Kampfszenen in Schwerelosigkeit, denen man eine perfekte Illusion attestieren muss. Nicht nur die Choreografie und die makellosen visuellen Effekte, sondern auch die dabei zusehende Kamera (wie immer Wally Pfister), ständig in Bewegung und Rotation, machen die von mir oben genannte Szene zu einem absoluten Highlight und weiteren Meilenstein in der Geschichte des Films, so wie uns Neo und Trinity 1999 mit bisher unbekannten Bewegungen entzücken konnten. Schauspielerisch ist nichts auszusetzen, selbst Nebenrollen sind mit Hochkarätern wie Michael Caine besetzt. Leonardo DiCaprio ist überzeugend wie eh und je, Joseph Gordon-Levitt ist die Entdeckung schlechthin (er hat eine frappierende Ähnlichkeit mit Heath Ledger, und wird Gerüchten zufolge auch in Nolans drittem Batman Film den Antagonisten „The Riddler“ spielen), Tom Hardy hat einerseits britischen Charme und gleichzeitig die nötigen Fähigkeiten fürs Grobe. Ellen Page (JUNO) als Avatar des Zuschauers spielt den überzeugenden Neuling und meistert auch die emotionalen Szenen mit guter Dosis. Marion Cotillard ist bezaubernd und furchteinflößend, Ken Watanabe einfach cool, und Cillian Murphy beeindruckt mit seiner guten und teilweise rührenden Darstellung des verunsicherten Milliardärserben.
Zusätzlich zu solidem Spiel und beeindruckenden Effekten, die in gekonnten Montagen zur Geltung kommen, überzeugt mich INCEPTION auch inhaltlich. Filme dieser Kategorie treffen bei mir einen Nerv. Ich liebe THE MATRIX, THE FOUNTAIN, THE THIRTEENTH FLOOR, AVALON, DARK CITY,… – alle Filme, die mit der Frage nach der Realität spielen, manche vielleicht auf philosophisch naiverem Niveau als andere, aber allesamt interessante Filme, die uns nicht nur stupide Action liefern, sondern auch über den Filmgenuss hinaus zum Denken in anderen Kategorien als im Alltag anregen. Während bei AVATAR beeindruckende und noch nie da gewesene Effekte einen völlig banalen und herkömmlichen Plot kaschierten, wird hier eine Geschichte geliefert, die wahrscheinlich auch ohne Explosionen und Schwerelosigkeit als Low-Budget-Produktion überzeugt hätte. Das schicke Beiwerk macht aus einem sehr guten Film einfach auch noch einen kassentauglichen Blockbuster.
Was mir an INCEPTION nicht gefällt
Ich habe tatsächlich minimale Kritikpunkte, die allerdings das Filmerlebnis nicht wirklich trügen, aber über die ich mir dennoch Gedanken mache. Zunächst einmal wäre ich froh gewesen, noch mehr zu sehen! Sprich: die Prozedur der Kreation einer Traumwelt wird ausgiebig beschrieben und gezeigt, später aber als erledigte Tatsache hingenommen, ohne weiter gefeatured zu werden. Man hat zu Beginn den Eindruck, dass es unermessliche Möglichkeiten gibt, sich auszutoben, aber dass schließlich nur ein Bruchteil verwendet wird und uns zu Gesicht kommt. Nolan spielt mit der Architektur. So kommt die unendliche Treppe M. C. Eshers zwar vor, bleibt aber einziges Paradoxon im Level und hätte eines von vielen sein können.
Außerdem leiden die zahlreichen Charaktere ein wenig darunter, dass sie sich wenig entwickeln können aufgrund limitierten Raumes, so können die Akteure ihr schauspielerisches Potential nicht voll zur Schau stellen.
Den möglichen Kritikpunkt einer zu langen Einführung möchte ich hingegen nicht unterstützen, da mir persönlich das „Tutorial“ gefallen und mich auch unterhalten und informiert hat. Grenzwertig wird es teilweise, wenn der Zuschauer im Laufe der Handlung weitere Regeln des Spiels kennenlernt, die vorher nicht bekannt waren. Dies ist allerdings die logische Konsequenz eines konstruierten Universums. Die Alternative wäre gewesen, den Film viel simpler zu machen, oder aber den Zuschauer uninformiert zu lassen, und das hätte ihn narrativ auf eine ganz andere Schiene gebracht, die vielleicht auch wie ein traumartiger Zustand gewesen wäre, jedoch das Konzept Nolans völlig auf den Kopf gestellt hätte. Seine Traumwelten sind nicht abstrakte und surreale Bilder à la David Lynch oder Terry Gilliam (es wäre sicher interessant, eine Inception-Variante dieser Regisseure zu sehen). Nolan bleibt seiner Struktur treu, auch in den Träumen. Diese wirken ebenso real wie die Realität.
Die Musik Hans Zimmers ist imposant und laut, erinnert an vielen Stellen an THE DARK KNIGHT und drückt dem Film noch einen zusätzlichen schweren Stempel auf. An einigen Stellen ist die Musik beinahe genau so laut wie der Dialog und zwingt den Zuschauer, genau hinzuhören.
INCEPTION ist ein Erlebnis und zweifellos einer der besten Filme seit langem. Er ist voll von guten und interessanten Ideen, seien es die synchronisierten Kicks, um die einzelnen Traumwelten zu durchbrechen, die unterschiedlich wahrgenommene Zeit, die verschachtelten Träume, der Limbus oder die Idee des Diebstahls oder der Einpflanzung von Ideen. Es sind nicht Ideen, die noch nie da gewesen sind oder formuliert wurden, aber es sind Konzepte und Gedankenexperimente, die Christopher Nolan zu einem funktionierenden originellen Gesamtwerk zusammengefügt hat. INCEPTION ist sein zweites eigenes Drehbuch in Alleinregie nach dem Erstlingswerk FOLLOWING aus dem Jahre 1998, dessen Protagonist übrigens auch ein Dieb names Cobb ist.
Wenn man über einen Film wie INCEPTION nachdenkt, so muss man fast zwangsläufig einen Vergleich mit THE MATRIX ziehen, selbst wenn streng genommen die Konzepte doch unterschiedlich sind. Während in INCEPTION lediglich Träume hergestellt werden, in welche einige ausgewählte Personen agieren können, wird in THE MATRIX die Realität komplett simuliert, und die gesamte Population bewegt sich in ihr. Dennoch macht der Vergleich allein wegen des philosophischen Aspektes Sinn, und vor allem hält INCEPTION diesem Vergleich stand. Für mich ist INCEPTION das, was 1999 THE MATRIX war und bei mir ausgelöst hat.
Fazit
Christopher Nolan hat bis heute sieben Filme gemacht. Kein einziger davon war schlecht, und nahezu alle waren außergewöhnlich gut. Mit INCEPTION schließt sich gewissermaßen zehn Jahre nach MEMENTO eine narrative Klammer in der Karriere dieses britischen Regietalents und wir dürfen gespannt sein, welche Richtung er nach dem dritten Batman Film (auf den wir uns zweifellos auch freuen dürfen) einschlagen wird. INCEPTION ist keine einfache Kost, aber fordert dem Zuschauer sicherlich auch nicht zuviel ab, ist also längst nicht so kompliziert, wie manche vielleicht befürchten (oder hoffen). Die Komplexität entsteht im Nachhinein, wenn man sich das Konzept durch den Kopf gehen lässt, das Ende überdenkt und ins Grübeln gerät – auch hierfür verdient der Film höchstes Lob.
Ein großartiger Film und ein Highlight in diesem Filmjahr!
INCEPTION
USA 2010
Regie: Christopher Nolan
Drehbuch: Christopher Nolan
Kamera: Wally Pfister
Schnitt: Lee Smith
148 min.
10/10
Auf meinem eigenen Blog habe ich zusätzlich zu dieser Review auch eine ausführlichere Analyse und Interpretation des Films gepostet. Der Link zum Blog ist in meinem Profil.
Top Angebote
Mein Avatar