Geschrieben: 25 Juli 2010 16:31
Blu-ray Papst
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Clubposts: 10.040
seit 04.09.2009
Panasonic TX-P55VT50E
Blu-ray Filme:
Steelbooks:
1
Mediabooks:
2
Bedankte sich 1975 mal.
Erhielt 2349 Danke für 752 Beiträge
Einleitung:
Michael Haneke blickt in seinen
Filmen in die tiefsten Abgründe der menschlichen Natur. Egal ob
sinnloses Morden („Benny’s Video“, 1992), brutale Gewalt („Funny
Games“, 1997) oder psychologischer Terror („Caché“, 2005), immer
stehen Menschen in extremen Situationen im Mittelpunkt seiner
Filme. Dabei verzichtet Haneke in der Regel auf einfache
Erklärungen oder vorgefertigte Interpretationen, ja selbst eine
moralische Distanzierung von den geschilderten Taten bleibt der
österreichische Regisseur oft schuldig. Der Zuschauer bleibt mit
seinen Gedanken allein, und wird somit gezwungen, sich mit dem
gesehenen noch intensiver auseinander zu setzen. Das ist nicht
immer einfach, oft sogar verstörend, trägt jedoch dazu bei, dass
Hanekes Filme lange in Erinnerung bleiben. Genauso verhält es sich
auch mit dem vorliegenden Film „Das weisse Band – Eine deutsche
Kindergeschichte“.
Story:
Das Dorf Eichwald kurz vor
Ausbruch des 1. Weltkriegs. Mysteriöse Vorfälle ereignen sich in
der kleinen protestantischen Gemeinde im ländlichen
Norddeutschland: Der Arzt des Dorfes hat einen schweren Reitunfall,
nachdem sein Pferd scheinbar über ein gespanntes Seil gestolpert
ist. Die Frau eines Kleinbauern stirbt, nachdem sie während der
Arbeit im Boden des örtlichen Sägewerks einbricht. Der behinderte
Sohn der Hebamme verschwindet und wird kurze Zeit später schwer
misshandelt im Wald aufgefunden. Diese und einige Vorfälle mehr
ereignen sich binnen kurzer Zeit, jedoch bleibt die Suche nach dem
oder den Tätern erfolglos. Nur der junge Lehrer des Dorfes stößt
durch Zufall auf einige Hinweise, die ihn zu einem grauenvollen
Verdacht führen.
Die hier portraitierte Gemeinde
ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Schmelztiegel menschlicher
Grausamkeiten. Dabei sind die in aller Öffentlichkeit
stattfindenden Verbrechen nur die Spitze des Eisbergs. Das wahre
Grauen lebt hinter den verschlossenen Türen der streng gläubigen
Dorfbewohner. Neid und Missgunst, Brutalität, Verachtung,
Beleidigungen und häusliche Gewalt sind an der Tagesordnung.
Bigotte Moralvorstellungen werden den Kindern mit Rutenschlägen
eingetrichtert. Weil sein halbwüchsiger Sohn sich beispielsweise an
den „empfindlichsten Nerven seines Körpers“ vergangen hat, lässt
ihm der Pfarrer des Nachts die Hände ans Bett fesseln, um ihm diese
schändliche Angewohnheit auszutreiben.
Da der Film die Ereignisse
hauptsächlich aus Sicht der Kinder erzählt, nimmt man an deren
Leidensweg besonderen Anteil. Kaum eine Regung, geschweige denn ein
unbekümmertes Lachen entweicht ihren, schon in jungen Jahren,
versteinerten Gesichtern. Als Zuschauer fragt man sich daher
unweigerlich, welche Auswirkungen ein Leben in dieser Umgebung auf
die jungen und noch unschuldigen Kinderseelen haben
werden.
Welche zukünftige Gesellschaft
entsteht aus Individuen, deren Kindheit nicht von Liebe, sondern
von Grausamkeit, nicht von Anerkennung, sondern von gnadenloser
Disziplin und unbedingtem Gehorsam, nicht von elterlicher Fürsorge,
sondern eisiger Gefühlskälte geprägt wird?
Hier formt sich im Geiste des
Betrachters im Laufe der Zeit die vielleicht wichtigste Erkenntnis,
die dieser Film auf Hanekes eigene Art vermitteln
will.
Nachdem die Kinder des Pfarrers
eines Abends zu spät nach Hause kommen, setzt es am darauf
folgenden Tag Rutenschläge. Doch damit nicht genug, wird dem Sohn
ein weißes Band um den Arm und der Tochter ein weißes Band ins Haar
gebunden. Das soll die Kinder stets an die eigene Tugendhaftigkeit
und Rechtschaffenheit erinnern. Doch kennzeichnet es sie natürlich
auch in der Öffentlichkeit als jemanden, dem es an besagten
Tugenden in der Vergangenheit gemangelt hat. Da stellt sich ganz
automatisch die Frage, auf welche Ideen der Bestrafung diese Kinder
einmal kommen werden, wenn sie selbst als Erwachsene einmal
Verantwortung gegenüber anderen Menschen oder gar der ganzen
Gesellschaft gegenüber übernehmen werden. Oder um es auf den Punkt
zu bringen: wie weit ist es vom weißen Band bis zum Judenstern?
Müssen diese Kinder nicht zwangsläufig in späteren Jahren ein
völlig entartetes Verhältnis zu Disziplin und Bestrafung
entwickeln? Ist der Nationalsozialismus nicht die konsequente
Fortführung, die letzte denkbare Instanz dieser gesellschaftlichen
Zustände? Setzt sich der Dorfname „Eichwald“ nicht aus „Eichmann“
und „Buchenwald“ zusammen?
Wohlgemerkt sind das alles Fragen,
die der Film zwar aufwirft, aber nie beantwortet. Wie selten zuvor
wird der Zuschauer selbst in die Verantwortung genommen, sich über
das hier gesehene seine Gedanken zu machen und Schlussfolgerungen
zu ziehen. Denn einfache Antworten sind Hanekes Sache hier weniger
denn je.
Bild:
Heutigen Sehgewohnheiten zum Trotz
wurde „Das weisse Band“ in Schwarzweiß gedreht. Das Bild liegt im
Bildschirm füllenden Format 1,85:1 vor und bietet die volle
Auflösung von 1080p/24.
Bedenkt man jedoch die Intention
des Regisseurs und die Zeit, in der der Film angesiedelt ist, kommt
man schnell zu dem Schluss, dass diese Entscheidung die einzig
Richtige war. Das messerscharfe Schwarzweiß strahlt eine enorme
Kälte und Eindringlichkeit aus, die die Thematik des Films noch
einmal zusätzlich unterstreicht. Warme Farben wären hier ebenso
fehl am Platz wie unbeschwertes Kinderlachen. Bildführung und
Schnitttechnik sollten hier ebenfalls erwähnt werden, tragen sie
doch als Stilmittel zu diesem Gesamtkunstwerk bei. Kamerafahrten
oder weitläufige Schwenks gibt es hier nicht. Die Kamera verharrt
meist in einer Einstellung. Dafür wirken die einzelnen
Bildkompositionen und Arrangements wie Gemälde, die einem
Stillleben noch am nächsten kommen.
Ebenso wird der Schnitt hier
einmal nicht nur zur bloßen Aneinanderreihung von Szenen, sondern
als weiteres Mittel zum Verständnis des Films eingesetzt. Als
Beispiel soll hier die Szene dienen, in der der Pfarrer seinem Sohn
Vorhaltungen wegen seiner nächtlichen Masturbationen macht. Hat der
Pfarrer seine Moralpredigt beendet, schneidet der Film sofort in
das Haus des Arztes, wo dieser und die Hebamme bei einem freudlosen
Akt an der Küchenkommode gefilmt werden. Ein wahrer Höhepunkt des
Films, wird hier doch die im Dorf vorherrschende Doppelmoral
schonungslos entlarvt. Genial!
Auf Farbe muss man zwar
verzichten, auf alle anderen Merkmale eines erstklassigen Transfers
in High Definition jedoch nicht. Das Bild zeichnet sich durch
enorme Schärfe und Detailzeichnung aus. Der Kontrast ist wie bei
einem Schwarzweiß-Film zu erwarten, recht hoch, wirkt allerdings
nie überzeichnet. Übermäßiges Graining ist nicht
erkennbar.
Ton:
„Das weisse Band“ kommt völlig
ohne Filmmusik aus. Der Ton ist im positivsten Sinn minimalistisch
und trägt damit als weiteres Stilmittel zum Gesamtkonzept des Films
bei. Trotzdem kann der deutsche HD-Ton seine ganze Stärke
ausspielen. Diesmal eben nicht in bombastischen Weltraumschlachten
oder gewaltigen Explosionen, sondern eher in den leiseren Tönen:
knarrende Holzdielen, summende Fliegen, raschelnde Blätter. All
diese leisen Geräusche werden mit enormer Auflösung zu Gehör
gebracht. Die Dialoge sind klar verständlich, die Surroundkanäle
werden eher sparsam eingesetzt, ebenso der Tiefbass.
Extras:
Die Extras sind leider nicht sehr
umfangreich und liegen lediglich in Standard-Definition vor. Im
recht oberflächlichen, 40minütigen Making-Of wird u. a. erwähnt,
wie letztlich rumänische Bauern “importiert” werden mussten, um die
von harter Arbeit in der freien Natur gezeichneten Dorfbewohner
darzustellen, oder wie schwer es war, einen zeitgenössischen
Gutshof zu finden, der nicht entweder schon völlig verfallen oder
mitlerweile zu einem modernen Hotel umgebaut worden
war.
Die Pressekonferenz aus Cannes
lässt dann die Hauptdarsteller zu ihren Rollen und den Regisseur zu
Wort kommen. Aber auch dort blockt Haneke Fragen zum näheren
Verständnis des Films ab.
Abschließend wird noch ein
50minütiges Portrait des Regisseurs Michael Haneke geboten, in dem
auf seinen bisherigen Lebensweg und einige seiner Filme eingegangen
wird.
Fazit:
Michael Hanekes jüngster Film ist
zweifellos ein Meisterwerk. Nicht nur was den kreativen Aspekt
angeht, sondern auch aus formaler, handwerklicher Sicht. Die
ungewöhnliche Geschichte fesselt ungemein. Die Leistungen der
Hauptdarsteller und der Kinder sind überragend. Herauszuheben ist
hier sicherlich Burghart Klaußner in der Rolle des Pfarrers. Aber
auch die Kinder liefern eine erstaunliche schauspielerische
Leistung ab. Ein Effektfeuerwerk darf hier sicherlich nicht
erwartet werden, aus dem Mainstreamkino bekannte Sehgewohnheiten
werden hier nicht bedient. Hier wird im besten Sinn „Kopfkino“
geboten, das zum Nachdenken anregt. Der Film selbst verweigert eine
vor gefasste Interpretation gänzlich. Den Wille dazu vorausgesetzt,
findet der Zuschauer Erklärungen oder Lösungen nur durch eigenes
Nachdenken. So kann es durchaus sein, dass jeder den Film letztlich
anders sieht und anders interpretiert. Das ist jedoch vom Regisseur
absolut gewollt.
Aus technischer Sicht weiß die
Blu-ray ebenfalls zu überzeugen. Bild und Ton zeichnen sich durch
Minimalismus auf höchstem Niveau aus. Nur die Extras hätten ein
wenig umfangreicher ausfallen dürfen.
„Das weisse Band“ ist ein
überragendes Stück Kino, das man sich nicht entgehen lassen
sollte.
Kurzbewertung:
Story: 10/10
Bild: 9/10
Ton: 9/10
Extras: 5/10
Testequipment:
TV: Pioneer PDP-LX5090
(50“)
Player: Pioneer
BDP-LX71
Receiver: Pioneer
SC-LX81
Lautsprecher: B&W,
Teufel
Geschrieben: 25 Juli 2010 17:01
Wieder mal_ Wow, ein tolles 2. Review zu einem ungewöhnlichen und
anspruchsvollen Film das diesem gerecht wird..Wie immer: Danke für
die Mühe und Arbeit die hinter einem solchen Text steckt,
"America is the only country that went from
barberism to capitalism without civilization in between." - Oscar
Wilde
Geschrieben: 29 Juli 2010 16:46
Geschrieben: 29 Juli 2010 16:50
Amaray Freak
Blu-ray Papst
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Bedankte sich 432 mal.
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Klasse Review - liest sich wirklich prima - weiter so!
Geschrieben: 29 Juli 2010 22:33
Blu-ray Starter
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Wunderschönes Review - inhaltlich und sprachlich top! :thumb:
Ich fürchte, damit hast du dich zusammen mit Patrick_Star in die
Favoritenrolle gedrängt.
Da mir Hellsichtigkeit gegeben ist, bin ich mir in deinem Fall
sogar ganz sicher! :D
Dietmar
Geschrieben: 30 Juli 2010 06:24
Matthias... ich habs dir schon im Club gesagt. Für mich das mit
Abstand beste Review überhaupt. Derart gut geschrieben, dass es für
uns andere Teilnehmer schon leicht beängstigend ist.
Dazu noch ein wirklich nicht alltäglicher Film mit
schwerverdaulicher Story. Einfach nur toll, was du uns hier
präsentierst.
Es ist eine Ehre, mit ihnen in einem Club dienenzudürfen SIR!
:):thumb:
Geschrieben: 30 Juli 2010 07:27
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So und nicht anders muss ein Review (oder heißt es eine Review!?)
aussehen.. Einen weiteren Pluspunkt gibts von mir für die Auswahl
des Filmes!!!
Geschrieben: 30 Juli 2010 09:22
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Bedankte sich 1975 mal.
Erhielt 2349 Danke für 752 Beiträge
Zitat:
Zitat von Patrick_Star
Matthias... ich habs dir schon im Club gesagt. Für mich das mit
Abstand beste Review überhaupt. Derart gut geschrieben, dass es für
uns andere Teilnehmer schon leicht beängstigend ist.
Dazu noch ein wirklich nicht alltäglicher Film mit
schwerverdaulicher Story. Einfach nur toll, was du uns hier
präsentierst.
Es ist eine Ehre, mit ihnen in einem Club dienenzudürfen SIR!
:):thumb:
Die Ehre gebe ich aber gerne zurück, lieber Namensvetter.
:thumb:
Vielen Dank Euch allen, für Eure netten Worte!
Geschrieben: 30 Juli 2010 09:37
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Sehr schönes Review eines wunderbaren Films. :thumb: Die UK-Version
hat zwar zusätzlich noch ein Interview mit Hanneke, aber extramäßig
hätte ich mir auch etwas mehr gewünscht, insbesondere einen
Audiokommentar.
Dass diesem Film so ein hohler Hitech-Dreck wie Avatar den Oscar
für beste Kamera weggeschnappt hat, ist ein echter Witz. :mad:
Geschrieben: 30 Juli 2010 09:53
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HAL 9000 is behind blue eyes
Auch von mir an dieser Stelle ein Lob. Tolles Review, toller
Film.
App Academy Awards, wenn man sich so manchen Preisträger ansieht,
wundert man sich auch und kommt aus dem Staunen nicht mehr
raus.:eek:
"Here I am, brain the size of a planet, and they ask me to take you
to the bridge. Call that job satisfaction, 'cause I don't."
(Marvin, The Hitchhiker’s Guide to the Galaxy)