Das Licht geht aus im Konferenzsaal, und aus dem Dunkel beginnt
Jean-François Dugas zu erzählen. Als sie die Inseln Samos und
Levinthos überflogen hatten, berichtet Jean-François Dugas, wurde
Ikarus übermütig. Er stieg höher und höher, dem Himmel entgegen,
bis die Glut der Sonne das Wachs seiner Flügel schmolz und sich die
Federn lösten. Der Sohn des Dädalus stürzte ins Meer und starb.
Wenn der Mensch allzu dreist seine Grenzen überschreitet, so lautet
die Moral der griechischen Sage, dann nimmt er ein böses
Ende.
Und nun, in ein paar Jahren schon, beginnt die Sache mit den
kybernetischen Verbesserungen. Mikromotoren und Gestänge in den
Armen übertreffen die Leistungsfähigkeit von Muskelfasern um ein
Vielfaches. Mikrochips, kunstvoll mit der Hirnrinde verwoben,
erweitern die Merkfähigkeit. Was machbar ist, wird wünschenswert,
und im Jahr 2027 ist die Kybernetik der wichtigste Wirtschaftszweig
der Welt. Wieder wächst der Mensch über sich hinaus; nicht durch
Federn in Wachs diesmal, sondern mit Federn im Fleisch. Die
Konsequenzen daraus schildert das düstere Action-Rollenspiel
Deus Ex : Die Gesellschaft zerfällt in
eine Unterschicht der Normalsterblichen und eine Elite der
Verbesserten, die die überall tobenden Klassenunruhen zu lösen
versucht, indem sie die Welt mit einem künstlich erschaffenen
Nanovirus entvölkert, ein staatenübergreifender Genozid.
Jean-François Dugas verstummt, er hat zusammengefasst, was alle in
der Runde bereits wussten: die fünf Journalisten, der Führungsstab
von Eidos Montreal, die fünf leitenden Köpfe des Entwicklerteams,
sie kennen
Deus Ex, vor acht Jahren erschienen,
eines der wichtigsten Spiele seiner Zeit, ein Klassiker, es hat
Maßstäbe gesetzt. Ein Dädalus. Sie alle wissen vom Nachfolger,
Deus Ex 2 , über den man nicht gerne
spricht, so weit war er 2003 von der Größe des Vaterspiels
entfernt. Abgestürzt, ein Ikarus. Das macht die Sache pikant. Dugas
und seine Teamkollegen sitzen am Konferenztisch in Montreal, um von
dem Spiel zu sprechen, an dem sie seit eineinhalb Jahren arbeiten:
Deus Ex 3 . »Also.« Jean-François Dugas
atmet durch. Der Flug beginnt.
Am Anfang war die Furcht
»Das erste
Deus Ex spielte im Jahr 2052«, sagt
Mary De Marle und tippt auf die Tastatur; auf der Leinwand
erscheint ein Zeitstrahl. Das Jahr 2029 ist mit einem Strich
markiert, daran steht: »Geburt von J.C. Denton«. Denton war der
Held des ersten
Deus Ex. Etwas links davon, beim
Jahr 2027, ragt ein weiterer Strich aus dem Strahl. Er steht für
Deus Ex 3. »Unser Spiel wird ein Prequel. Wir
erzählen die Vorgeschichte«, sagt De Marle, die Chefautorin des
Projekts, von ihr stammt die Rahmenhandlung. De Marle hat früher an
den Myst-
Spielen mitgeschrieben. Die Fans, erzählt sie, hätten sie gehasst
für jede Kleinigkeit, die nicht ins Universum passte. Sie hat
Erfahrung mit Serientreue.
Deus Ex hatte zwei große Themen: Die Veränderung
des Menschen durch Nanotechnologie und die Verschleierung von
Motiven durch Verschwörungen. Keiner traut keinem, die Welt taumelt
zwischen Paranoia und Endzeitstimmung. In
Deus Ex
3 zeichnet sich dieser Abgrund erst düster am Horizont ab,
aber die Gesellschaft ist bereits von Rissen durchzogen.
Multinationale Kybernetik-Konzerne übertreffen in vielen Ländern
die Regierungen an Einfluss. Wer es sich leisten kann, hilft seiner
Schaffenskraft mit mechanischen Implantaten auf die Sprünge. »Wie
gehen die Menschen damit um, dass einige von ihnen sehr viel klüger
und besser sind als andere?«, fragt Mary De Marle. Spannungen
entladen sich in einer neuen Form von Rassismus, auf den Straßen
werden Implantierte von Gruppen normaler Menschen verprügelt. Oben
in den Chefetagen der Kybernetikfirmen schmieden die Strategen
Pläne und Gegenpläne für Sabotagekriege gegen die Konkurrenz.
Hinter den Firmen steckten Geheimbünde, munkelt man, die wiederum
nur Marionetten seien, aber für wen? »Jemand will die Kontrolle an
sich reißen«, sagt De Marle, »über den Markt und die Gesellschaft,
aber letztendlich über die menschliche Evolution.« Sie hat alle
Instanzen in
Deus Ex 3 auf ein großes Blatt Papier
gezeichnet, erzählen die Kollegen, und die Verschwörungen durch
Verbindungslinien markiert. Am Ende sah der Zettel aus wie ein
Strickmuster.
Es beginnt mit Adam
Am Anfang des Erzählfadens steht ein Mann namens Adam Jensen,
dessen Welt gerade zusammenbricht. Jensen arbeitet als
Sicherheitschef für den Kybernetik-Konzern Sarif Industries. Eines
Tages überfällt ein Spezialkommando die Entwicklungsabteilung und
tötet alle Wissenschaftler. Die Angreifer kennen jedes Detail von
Adams Sicherheitsplan. Jemand muss die Informationen herausgegeben
haben. Adam Jensen ist der Held von
Deus Ex 3,
seine Geschichte beginnt mit der Suche nach den Verantwortlichen
für den monströsen Überfall und deren Motive. Das »Wer« klärt sich
bald. Aber die Antworten, die Adam findet, führen allesamt nur zu
weiteren Fragen und so zu einer Reise um die Welt.
Zu den Wendungen dieser Abenteuerfahrt sagen sie nichts im
Konferenzraum in Montreal, aber wenn man mit Mary De Marle unter
vier Augen spricht, macht sie Andeutungen. Der zentrale
Gegenspieler, sagt die Chefautorin, ist Adam sehr ähnlich. Es gibt
ein Apartment im Spiel, vollgestopft mit Hinweisen auf Adams Leben,
Fotos an den Wänden und einem
Computer auf dem Tisch mit
aufschlussreichen Dateien. Es gibt starke Frauenfiguren; manche
davon teilen mit Adam eine gemeinsame Vergangenheit, und manche
haben Interesse an einer gemeinsamen Zukunft. Mindestens eine
stellt sich Adam als Gegnerin in den Weg. Die Ereignisse in
Deus Ex 3 führen zur Gründung der UNATCO, der
internationalen Polizeiorganisation, der J.C. Denton im ersten
Deus Ex angehört. Auch diesmal soll es mehrere
variierende Spielenden geben, abhängig von den Entscheidungen des
Spielers. Vor Kurzem, erzählt Jean-François Dugas, hat Marie einer
Gruppe neuer Kollegen die Haupthandlung von
Deus Ex
3 vom Anfang bis zum Ende zusammengefasst, ohne
Nebenstränge. Das dauerte zwei Stunden.
Aus der Rippe
In der Mitte des Großraumbüros, in dem
Deus Ex 3
hauptsächlich entsteht, hängt ein Boxsack. Ein Mitarbeiter brachte
ihn eines Tages mit, um bei Gelegenheit mit ein paar Schlägen zu
entspannen. Der Studiochef Stéphane D’Astous ließ zwei
Schreibtische entfernen, um Platz für den Sandsack zu schaffen,
seitdem ist er das inoffizielle Maskottchen von Eidos Montreal.
Möglich, dass die Teammitglieder an Ubisoft denken, während sie
darauf einhauen. Rund zwei Drittel der Beschäftigten hier kommen
vom großen Konkurrenten, der in Montreal einen Studiokomplex mit
mehr als 1.600 Mitarbeitern betreibt. Der Lead Designer
Jean-François Dugas hat dort an
Far Cry Instincts
gearbeitet, die Chefautorin Mary De Marle an Splinter Cell, auch
Projektleiter David Anfossi war lange dort. Das Kernteam von
Deus Ex 3 kommt so im Schnitt auf zehn Jahre
Branchenerfahrung. Sie haben das ausgerechnet, um zu zeigen: Hier
arbeiten fähige Leute, keine Anfänger. Dennoch ist
Deus Ex
3 ihr erstes gemeinsames Projekt, das erste auch für Eidos
Montreal. Rund um den Boxsack sitzen etwa 120 Menschen an dem
Spiel, und auf manchen Schreibtischen liegen die Verpackungen des
ersten
Deus Ex als Erinnerung –
oder als Mahnung.
Wir bleiben treu!
Es gibt einen Artikel vom Dezember 2000, in dem der damalige
Produzent Warren Spector die Stärken seines Spiels beschreibt. »In
Deus Ex dreht sich alles um
Entscheidungsfreiheit«, heißt es darin, »wer du bist, wie du mit
der Welt umgehst, was du bei dir trägst, und so weiter.«
Deus Ex war ein Shooter, aber auch ein
Rollenspiel; es erlaubte seinen Spielern, sich mit Gewalt durch die
Story zu ballern oder um Gefahren herumzuschleichen. Aus dem Helden
konnte je nach Spielweise ein Computerspezialist oder ein
eloquenter Diplomat werden. Beim ersten Durchspielen bekam man
einige Handlungsstränge gar nicht zu Gesicht, viele Missionen waren
optional, manchmal wählte man zwischen guten und bösen
Alternativen. Zum Schluss gipfelte das Spiel in drei Varianten für
die Zukunft der Menschheit.
Jean-François Dugas hat mit Warren Spector gesprochen, sie haben
ihre Analysen von
Deus Ex ausgetauscht. Dugas
hatte vieles hinzuzufügen. Er führt eine Liste, die aus zwei
Spalten besteht. In der linken Hälfte reihen sich all die Punkte
aneinander, die das erste
Deus Ex zu einem
herausragenden Spiel gemacht haben. An erster Stelle steht
»Entscheidungen und Konsequenzen«, es folgen »Flexibilität und
Kreativität«, »verschiedene Lösungswege«, »Ansporn zur Erkundung«.
Aber auch Details: Wie die Umwelt auf die Handlungen des Spielers
reagiert etwa – wer in
Deus Ex als Mann in die
Damentoilette ging, musste sich hinterher spöttische Kommentare der
Umstehenden gefallen lassen. Wie sich die wendungsreiche Geschichte
Schicht um Schicht entfaltet. Und wie die Charakterentwicklung die
Bindung an den Helden J.C. Denton intensiviert. »Das ist die
Essenz. Wir behalten all das bei«, sagt Dugas. »
Deus Ex
3 bleibt definitiv ein Rollenspiel-Shooter.« Das ist mehr
als ein Zugeständnis an die Fans, es ist auch eine Kampfansage. Es
gab mal eine zweite große Serie von Rollenspiel-Shootern,
System Shock , zu der ist 2007 ein geistiger
Nachfolger erschienen,
Bioshock . Aber der war kein Rollenspiel
mehr, nur noch Shooter, und eines der erfolgreichsten Spiele des
Jahres. Rollenspiel-Shooter hätten ihre Zeit hinter sich, erklärte
das Bioshock-Team damals, sie seien zu kompliziert. Seitdem gibt es
keine mehr. Und nun also
Deus Ex 3.
Stilvorbild Bioshock
»Renaissance«, sagt Jonathan Jacques-Belletête. »Die Renaissance
war die erste Kulturepoche der Neuzeit, die sich intensiv mit der
Natur beschäftigte.« Jacques-Belletête hat Abbildungen dabei: die
Proportionsstudie von Leonardo da Vinci, die David-Statue von
Michelangelo. Renaissance heißt »Wiedergeburt« auf französisch,
gemeint ist die Rückkehr klassisch antiker Tugenden in der
Wissenschaft und Kunst. Das Mittelalter ging zu Ende, man forschte
wieder. »Die Renaissance versuchte, die Natur zu verstehen«,
erklärt Jacques-Belletête. »In der Zukunft von
Deus
Ex versucht die Menschheit, die Natur
zu überwinden.« Jacques-Belletête gefällt diese Parallelität. Er
ist der Chef-Grafiker im Team. Das erste
Deus Ex,
findet er, lag mit seiner Vision vom Look der Zukunft ziemlich
daneben: »Mein Handy sieht futuristischer aus als die klobigen
Telefone in
Deus Ex.« Ihn hat Bioshock beeindruckt
wegen dessen mutiger Ästhetik, einer Hommage an das
elegant-verspielte Art Déco der 1930er-Jahre. »Ungewöhnliches
Design weckt Neugierde«, sagt Jonathan Jacques-Belletête. »Schau
dir das iPhone an.« Er zeigt Bilder aus
Unreal Tournament 3 ,
Ghost Recon 2,
Frontlines : »Sehen alle aus, als seien sie
aus dem gleichen Spiel.«
Deus Ex 3 soll sich nicht
einreihen. Deshalb hat Jacques-Belletête beschlossen, den rauen
Stil des zukunftspessimistischen Cyberpunk mit der leuchtenden
Detailtreue der Renaissance zu verschmelzen. Der Grundriss des
Petersdoms in Rom, ein schwarzweißes Kaleidoskop ziselierter
Kanten, dient als Inspiration für die Linienführung majestätischer
Türrahmen. Reiche Bezirke sind in dezente Goldfarben getaucht wie
Bilder Raffaels, in heruntergekommenen Gebieten dominiert das
Schwarz von Cyberpunk-Ikonen wie Blade Runner. Für die Kleidung der
Menschen verpassen Jacques-Belletêtes Grafiker antiken Hochkragen,
Schnürkleidern oder Puffärmeln futuristische Schnitte und
erschaffen so Zukunfts-Kreationen, die seltsam vertraut
wirken.
Leonardo auf Glas
Jonathan Jacques-Belletête kann sehr hintergründig lächeln, er
passt perfekt zu diesem Spiel. Seine Haut ist mit Tätowierungen
übersät. Man möchte unweigerlich näher hinschauen, Tattoos stehen
immer für etwas, man kann im Muster der Linien nach Bedeutung
suchen. So stellen sich Jacques-Belletête und Jean-François Dugas
diese Zukunft vor, die nur 20 Jahre entfernt ist. Wiedererkennbar.
Nah. Aber das Vertraute ist anders, verschoben.
Jacques-Belletête lässt sein Team Parkuhren entwerfen,
Computerbildschirme, Alltagsgegenstände. Ramsch eigentlich, aber
Bindeglieder in die Gegenwart, wie wir sie kennen. Und dann sind da
Orte wie die Implantationsklinik, ein freundlich-heller
Raum voll spinnenartiger
Roboterarme, die dem Menschen auf dem Operationstisch Metallstücke
in den Körper schieben. Am Ende wird es ihm möglich sein, die
Finger kranzförmig abzuspreizen und nach hinten umzubiegen. Man
kann die Bilder schwer anschauen, ohne an Verstümmelungen denken zu
müssen, es ist kein angenehmes Gefühl. Es ist die Zukunft in
Deus Ex 3. Im glasschimmernden Wartezimmer der
Klinik hängen Profilskizzen der menschlichen Anatomie, und auf
einmal ist man wieder bei Leonardo da Vinci.
Auf dem spiegelnden Kunststoffboden stehen dicke Fauteuils, alte
Ledersessel. Die Verbindung wirkt natürlich, man muss zweimal
hinsehen, um zu erkennen, dass hier Epochen aufeinanderprallen. In
einer Welt, die von Verschwörungen durchwuchert ist, spiegelt sich
das Zweideutige auch in der Gestaltung, alles steckt voller
Symbolik. Schon das erste
Deus Ex war reich an
Querverweisen nah an der Wahrnehmungsschwelle. Auf Dädalus und
Ikarus zu kommen, dürfte für Jean-François Dugas und sein Team
nicht sehr schwer gewesen sein: Im ersten
Deus Ex
sind Vater und Sohn zwei
Computer-Intelligenzen.
Ein Ausflug
Auf der Leinwand erscheint ein Probelevel aus dem Spiel, die
Version ist noch früh, sie läuft auf einer
Xbox 360. Wir bewegen uns in
der Ego-Perspektive durch einen Labortrakt mit kühlen, klaren
Räumen, deren kontrastreicher Stil wie eine Mischung aus
Star Trek und
Team Fortress 2 anmutet. Auf Labortischen reihen
sich Instrumente aneinander, ein Roboterarm wühlt leise surrend in
einem riesigen Tankzylinder. Jeder Arbeitsplatz sieht anders aus,
alles scheint Zweck und Ordnung zu haben. Kein Interface verdeckt
die Ansicht, denn wir haben keine Augenimplantate. Ohne die, sagt
Jean-François Dugas, wird es keine Anzeigen geben. Wir steigen eine
Stahltreppe hinauf auf eine Galerie und betreten ein Aufseherbüro –
ein Schritt wie in die Gediegenheit vergangener Zeiten.
Qualmschwaden treiben durch den getäfelten
Raum, auf dem dicken Teppich
steht ein dunkler Ledersessel vor dem schweren Holzschreibtisch,
Bücher überall, ein Standglobus. Nur im goldenen Lüster stecken
Leuchtstoffröhren wie zur Erinnerung daran, dass wir uns immer noch
in der Zukunft befinden.
Anführer und Bosse
Jean-François Dugas deutet auf die zweite Spalte seiner Liste. Dort
stehen die Dinge, die das erste
Deus Ex nicht so
gut gemacht hat. Das sind die Punkte, die der Lead Designer diesmal
verbessern will. Am wichtigsten sind ihm die Kampfmechanik und die
künstliche Intelligenz der Gegner. »Im ersten
Deus
Ex hing der Erfolg in den Actionkämpfen von deinen
Charakterwerten ab«, erklärt Dugas. Das erscheint ihm widersinnig,
in
Deus Ex wird doch gekämpft wie in einem
Shooter, die Geschicklichkeit des Spielers sollte nicht durch
künstliche Handicaps ausgeknockt werden. In
Deus Ex
3 wird dieses System ersetzt; Treffer und Schaden hängen
nun nur noch vom Können des Spielers ab. Wie im
Ego-Shooter. Aber: Die
Charakterwerte bestimmen, welche Kampffertigkeiten man einsetzen
kann und welche nicht.
Und die Gegner? Dugas wird einsilbig. Es sei noch zu früh, darüber
zu reden. So erfährt man nichts von ihm, aber wer sich im abgelöst.
Großraumbüro des Teams umsieht, der entdeckt einen Zettel an der
Wand und darauf Details zu dem, was die KI-Programmierer vorhaben.
Gegnergruppen zum Beispiel bekommen einen Anführer, und wer den
identifiziert und ausschaltet, zerrüttet die Taktik der Restfeinde,
sie kämpfen chaotischer. Die KI soll auf Veränderungen reagieren,
etwa auf die Waffe, die der Spieler benutzt. Schießt er mit einer
Pistole? Dann nah ran, umkreisen, aus der Deckung zwingen. Greift
er zum Raketenwerfer? Nichts wie weg, hinter entfernten Objekten
ducken. Wenn die Kameraden links und rechts fallen, steht auf dem
Blatt, führen die Verbliebenen möglicherweise
Verzweiflungsangriffe. Taktik und Überlegung sollen die Kämpfe
bestimmen, nicht stures Dauerballern; Deckung ist essenziell, der
Geländevorteil entscheidend. Wenn sich Adam an Wände und
Gegenstände drückt, dann wird die Kamera die Ego-Ansicht verlassen
und ihn von außen zeigen, wie in
Rainbow Six: Vegas . Lebenspunkte besitzt Adam
nicht, er heilt sich nach kurzer Zeit selbst, wie das in Shootern
mittlerweile Standard ist. Es gibt Menschen als Gegner, Soldaten,
normale und durch Implantate verbesserte, es gibt Roboter. Und es
gibt Bosskämpfe. Man kann Jean-François Dugas danach fragen. Dann
zieht er die Stirn in Falten und sagt schließlich: »Es geht uns um
Entscheidungen und Konsequenzen, und die Bosse sind dafür ein gutes
Beispiel. Wie stark oder schwach die sind, wenn Adam sie trifft,
hängt von den Dingen ab, die er vorher getan hat.« Dugas schaut
ernst. »Würdest du einen Menschen ermorden, wenn du wüsstest, dass
das deinem Feind schadet?«
Durch die Wand
Maya ist der Name eines 3D-Programms, mit dem die Animateure des
Deus Ex 3-Teams arbeiten. Die Szenen, die Maya
abspielt, sind eher abstrakt: Umgebungsobjekte fehlen, die Figuren
bleiben untexturiert, gesichtslose graue Körper. Aber sie geben
einen Eindruck davon, welche Spezialfertigkeiten Adam Jensen einmal
beherrschen wird, je mehr Muskeln und Sehnen er in seinem Körper
durch Metall und Servos ersetzen lässt.
Drei Gegner stehen Adam gegenüber, als der den »Multi-Kill«
ausführt, auf den Rücken des mittleren springt, mit zwei
Flugtritten die umstehenden umlegt, dem verbliebenen Feind das
Genick bricht, während die Kamera um die Szene schwenkt. Szene 2:
Adam ist von Gegnern umringt, er aktiviert die
»Claymore«-Fähigkeit. Eine kreisförmige Explosion fegt die Feinde
fort. Szene 3: Mit Röntgenaugen durchleuchtet Adam eine Wand, auf
der anderen Seite lehnt eine Wache. Adam holt aus, sein Arm
durchbohrt die Wand und packt den Hals des überrumpelten Soldaten.
Das, schränkt Jean-François Dugas sofort ein, wird nur an klar
erkennbaren Stellen funktionieren, man kann nicht jede Wand
durchlöchern. Szene 4: Die Kante eines Hochhausdachs, Adam blickt
in die Tiefe. Springt über die Kante, Drähte schießen aus seinem
Rücken und krallen sich ins Mauerwerk, die Kamera kippt in die
Vertikale, Adam läuft an der Wand hinunter bis zum Boden. »Im
ersten
Deus Ex waren die Talente nicht viel mehr
als Zahlenwerte«, sagt Dugas, der Lead Designer, so steht es auf
der Negativ-Seite seiner Liste. »Wir wollen den Spieler auch
optisch belohnen.« Deshalb muss jedes neue Talent sichtbare
Auswirkungen haben, das ist die erste Regel für die Implantate. Die
zweite lautet: Alle Fertigkeiten lassen sich nochmals verbessern.
Nummer 3 besagt, dass all das
Geld kostet.
Kämpfen, schleichen, hacken
Geld ist eine der beiden
Spielwährungen in
Deus Ex 3, Erfahrungspunkte die
andere. Erfahrung gibt’s für erfüllte Aufträge und entdeckte
Geheimnisse, sie bestimmt die Stufe des Helden und damit die
Fertigkeiten, die er sich aneignen kann.
Geld wird gefunden oder
verdient, es soll knapp sein, denn vom Vermögen hängt eine
grundsätzliche Entscheidung ab: Neue Implantate kaufen oder neue
Gewehre? Adams Arsenal auszubauen kostet Bares, jede Waffe lässt
sich mit vier Bauteilen verbessern, Zielfernrohre zum Beispiel oder
größere Magazine, individuell für jedes Modell. Eine Wahl zwischen
Munitionstypen hat Adam nicht, jede Waffe verschießt nur einen
Patronentyp. »So bleiben alle nützlich«, sagt Jean-François Dugas,
»und die Wahl der richtigen Ausrüstung kann Kämpfe entscheiden.«
Adams Tragkraft ist nicht unbegrenzt, seine Ausrüstung verstaut er
in einem limitierten Inventar, das aus Rasterfeldern besteht wie im
ersten
Deus Ex oder in
Diablo.
Implantate fallen in vier Kategorien, und die decken sich mit den
vier grundlegenden Vorgehensweisen, die zum Merkmal der
Deus Ex-Serie geworden sind. Erstens, der Kampf;
wer will, räumt die meisten Probleme mit Gewalt aus dem Weg.
Zweitens, Heimlichkeit. Gegner lassen sich umschleichen, Gefahren
leise umgehen. Adam nutzt die Umgebung zur Deckung, bewegt sich im
Rücken von Wachen, beobachtet Patrouillenrouten. Schatten spielen
dagegen keine Rolle. »Das wird kein
Splinter Cell «, sagt Dugas. Implantate helfen
dabei, unentdeckt zu bleiben oder mehr zu sehen; Röntgenaugen etwa
blicken durch Wände, eine andere Erweiterung hebt den Blickwinkel
von Wachen optisch hervor, ähnlich wohl wie in der
Commandos-Serie. Drittens: Technik. Adam knackt
Schlösser und hackt sich in
Computer, um Kameras
auszuschalten oder Roboter fernzusteuern. Das Eindringen in
Software löst
Deus Ex 3 als Minispiel; in einem
Netzwerk von Kontrollpunkten sucht Adam nach einem Weg zum
Zielserver, während die Sicherheitssoftware des Mainframes nach ihm
fahndet. Je versierter Adams technologische Fertigkeiten, desto
tiefer dringt er ins System und findet Dinge, die ihm sonst
verborgen bleiben.
Wie ist die Stimmung?
Dann gibt es da noch die vierte Kategorie, und die bringt Mary De
Marles Augen zum Leuchten. »Unsere Dialoge sind eine Art Kampf mit
Worten«, strahlt die Chefautorin. Einige Journalisten legen die
Köpfe schief. »Wir gehen bei den Gesprächen keinen leichten Weg«,
springt Jean- François Dugas bei. Zwar funktioniert die Interaktion
auch in
Deus Ex 3 über eine Auswahl unter mehreren
möglichen Antwortsätzen. Aber welcher davon am vielversprechendsten
ist, darauf will das Spiel Hinweise streuen. Verzieht jemand den
Mund? Verschränkt er die Arme? Neigt er den Kopf? Wie ist seine
Stimmlage, wie das Sprechtempo, welcher Subtext steckt in seinen
Aussagen? Was sind seine Motive? Lügt er? Und wie reagiert man
darauf? »Wenn du merkst, dass jemand die Fassung verliert«, fragt
De Marle, »wäre es nun besser, ihn zu beruhigen oder eher noch
lauter zu werden?« Solche Entscheidungen von Gesichtern abzulesen
ist das eine. Dazu kommt, dass man während der Gespräche die Kamera
frei bewegen kann, um auf den Hintergrund zu achten. De Marle und
Dugas zeigen ein Beispiel: Ein Wachmann spricht, währenddessen
läuft ein Kollege im Hintergrund zu einer Tür. Wir bemerken das und
blicken zu ihm hinüber. Er tippt einen Öffnungscode in das
Tastenfeld. Adam merkt sich die Ziffernfolge. Wir schwenken zurück
zu unserem Gesprächspartner.
Im Konferenzraum herrscht Skepsis. Funktioniert das? Wie viel
Aufwand wäre nötig, um solch glaubwürdige, vielfältige menschliche
Mimik und Gestik darzustellen! Kommen am Ende doch nur ein Dutzend
Gesichtsausdrücke heraus, die sich ständig wiederholen? »Dialoge
gibt es ausschließlich mit Figuren, die für die Handlung relevant
sind. Jeder Gesprächspartner wird einzigartig sein, jede Person hat
eine klar definierte Persönlichkeit «, verspricht Mary De Marle.
Wir versuchen, in ihrem Gesicht zu lesen, aber entdecken nichts
außer Enthusiasmus.
Asien, aber anders
Das Bild, das Jonathan Jacques-Belletête auf die Leinwand wirft,
zeigt eine Inselstadt in zwei Ebenen. Unten ducken sich klobige
Fabrikklötze und Produktionsanlagen in den Schatten. Oben haben sie
auf gigantischen Pfeilern eine zweite Welt aufgepflanzt, hier heben
sich Bürotürme und Wohnsilos in den Himmel. Die Stadt ist Shanghai,
einer der fünf Schauplätze von
Deus Ex 3. Drei
davon sind Städte, neben Shanghai noch Detroit und Montreal. Die
beiden anderen Orte bleiben vorerst ungenannt. Die Haupthandlung
wird Adam Jensen linear von einer dieser Bühnen zur nächsten
führen. Innerhalb der Städte lässt ihm das Spiel Handlungsfreiheit.
Welche Nebenaufgaben er löst, welche Plätze er in welcher
Reihenfolge besucht, bleibt ihm überlassen, wie im ersten
Deus Ex. Jacques-Belletête hat weitere Bilder,
viele davon Konzeptzeichnungen, sie geben einen Einblick in die
Orte, an die es Adam verschlagen kann. Die Kanalisation. Die
U-Bahn. Ein Leichenschauhaus. Die Straßen von Detroit. Einen
Prachtsaal. Wie groß die Umgebungen ausfallen, wie belebt sie sind
– nichts davon können wir beurteilen, zeigen will oder kann man es
nicht. Aber die Welt soll auf das reagieren, was Adam Jensen macht,
das ist Jean-François Dugas wichtig, da steht er ganz in der
Tradition von Warren Spector. Augenzeugen werden die Aktionen des
Spielers kommentieren. Seine Taten sprechen sich herum. Es gibt
Schlagzeilen und Nachrichtensendungen im Spiel, genau wie etwa in
Mass Effect. Seine Entscheidungen bleiben nicht unbeobachtet.
Die Visitenkarte
David Anfossi sitzt im Aufenthaltsraum des Studios, in einer Ecke
rappeln vier Mitarbeiter an einem großen Kasten, sie tragen eine
Partie Tisch-
Eishockey aus. Bei Ubisoft
haben sie Kickertische. Deshalb wird hier
Eishockey gespielt. David
Anfossi war der zweite Mann bei Eidos Montreal, der erste, den der
Studiochef Stéphane D’Astous damals angerufen hat: »Bist du dabei?
« Jetzt leitet er die Produktion von
Deus Ex 3. Er
hat die Grafiktechnologie mit ausgewählt, was wohl nicht schwer
war. Es ist die CDC-Engine von Crystal Dynamics, die für die neuen
Tomb Raider-Spiele entwickelt wurde. Crystal
Dynamics gehört Eidos. »Es ist eine stabile und leistungsstarke
Technik«, sagt Anfossi. Sie haben die Perspektive angepasst und ein
paar Effekte eingebaut,
Deus Ex 3 wird Ambient
Occlusion (die Schattierung von Objektkanten) und dynamischen Rauch
beherrschen. Keine Menschenmassen. Keine Fahrzeuge. Kein
Multiplayer. Man wird über das
Internet Zusatzinhalte
herunterladen können, das ist geplant. Ansonsten konzentrieren sie
sich auf das Wesentliche. Sieben Monate hatte Anfossi für die
Vorproduktion einkalkuliert, inzwischen ist ein Jahr daraus
geworden. Jetzt, im November, schließen sie diese Phase ab. Dann
werden all die Einzelteile, die von den Programmierern,
Leveldesignern, Animateuren, Modellbauern geschaffen wurden, zum
ersten Mal zu einem Ganzen zusammengefügt.
»Wir können uns keine Fehler erlauben. Das muss ein Top-Spiel
werden«, sagt André Vu, der Marketing-Manager von Eidos Montreal.
»Das wird unsere Visitenkarte.« An der Studiowand hängt ein Zettel
mit Stichpunkten zur Handlung von
Deus Ex 3, der
letzte Punkt lautet: »Die Tür elegant für einen Nachfolger offen
lassen.«
Fazit
Ich weiß nun einiges über
Deus Ex 3, aber gesehen
habe ich wenig. Was kann ich sagen? Das Team ist sympathisch, es
hat Energie und gute Ideen. Aber der Wille allein macht noch kein
gutes Spiel. Wenn Eidos Montreal all das umsetzt, was es vorhat,
wird
Deus Ex 3 tief, intelligent, vielseitig,
spannend, möglicherweise ein neuer Meilenstein für das Medium.
Darauf hoffe ich. Darauf freue ich mich. Und darüber werden wir Sie
auf dem Laufenden halten.
Deus Ex hätte eine
ruhmreiche Wiederkehr mehr als verdient.
http://www.gamestar.de/previews/rollenspiel/1951147/deus_ex_3.html
Grüße
Alibaba