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25.000 Kilometer zum Erfolg.

9. September 2012
Der 3. Kaffee, und immer noch keine Besserung in Sicht. Mein Kopf spielt mir einen Streich. Es ist kein Kater, den ich von der Vornacht eigentlich haben sollte. Ist es vielleicht der plötzliche Wetterumschwung? Die viele Arbeit von der gesamten Woche, die heute endlich fertiggestellt wird? Die letzte Zeit? Oder die letzte Reise?

Fest steht, dass sich eine massive innere Unruhe breitmacht. Ähnlich einem Schrei, der langsam von der Bauchgegend sich bis nach Oben in den Kopf breitmacht, sich dort festsetzt, und einem das Gefühl gibt, abzuheben.
Ja, abheben scheint das richtige Wort. Ich drifte ab, in etwas, dass ich noch nicht fassen kann. Sind es die Impressionen aus der letzten Zeit? Vielleicht. Aber das, was mir dieser Schrei signalisiert, ist vor allem ein Gefühl:

Du übersiehst etwas!

Ja, ich habe das Gefühl, ich übersehe etwas. All die Erfahrungen, die ich in letzter Zeit gemacht habe, münzen zu einem Ganzen, doch dieses Ganze habe ich noch nicht erfasst. Mein Kopf ist ein Schritt weiter als ich, die Lösung scheint greifbar, doch begriffen ist Sie noch nicht.

Dabei habe ich mein Lebensstil komplett umgekrempelt. Ist es dieser rapide Wechsel, in dem eigentlich nur eine Gewohnheit, das Rauchen, gleichgeblieben ist? Habe ich mir zuviel zugemutet? Oder zu wenig?

Ich habe 10 Monate in Litauen gelebt. Raus aus dem Alltagstrott meiner Stadt, rein in das andere Leben. Auslandsjahr meines Studiengangs. Und ich habe es gut gelebt. Ein Semester habe ich beobachtet, gelernt, und studiert. Mir die Menschen angeschaut, die Organisation, die für uns zuständig war, um uns zu betreuen. Die Problempunkte erkannt und in eine Lösung umgesetzt. Public Relations mal anders.

Im Zweiten Semester habe ich meine persönliche Vorstellung eines Austauschsemesters umgesetzt. Die Erfahrungen, die ich im ersten Semester gesammelt habe, wurden angewendet. Wichtig zu sagen ist, dass das Ganze für mich neben dem Spaß auch Ernst war: Es war meine Chance, mir selbst zu beweisen, ob ich Führen kann. 
Ich gründete eine Gruppe in Facebook, und machte in den ersten Tagen der Neuankömmlinge massiv Werbung. Es ging nicht lange, bis alle Studenten meines Wohnheims darin vertreten waren.
Dann organisierte ich Events. Alle Arten von Events: Schlittschuhlaufen, Sightseeing, Partys, Reisen in alle Länder. Ich kümmerte mich um Visumsanträge für Russland, während eine andere Gruppe Reiseführer für Lettland gebraucht hat. Gruppe 3 versuchte günstig in Helsinki zu leben.
Ich studierte Europafluglinien, Visumsrichtlinien, und traf jedes Mal genau den Nerv des Moments mit den Aktivitäten, die ich anbot. Und ich hatte Erfolg.
Der Nini-Club, wie man ihn genannt hat, wurde schnell über das Wohnheim heraus populär. Jeder wollte ein Teil des Wohnheims, dass in ganz Vilnius bekannt ist, sein. Nicht nur Austauschstudenten traten bei, auch Einheimische fingen an, sich in mein System einzugliedern. Immer mehr Leute, was die Planung begünstigte.

All diese Planungen, mein steigender Bekanntheitsgrad in der (kleinen) Hauptstadt sowie meine Bereitschaft zur Interaktion mit jeder Person waren für mich Vorlagen zu dem Ziel, dass ich für dieses Semester gesteckt hatte: Ein Event, an dem alle Kulturkreise, die wir hatten, vertreten sind.
Ich entwickelte ein Konzept, in dem sich die Vertreter in Teams zusammenfanden, um an einem bestimmten Tag landestypische Gerichte zu kochen.

150 Leute meldeten sich an. 165 wohnten in dem Wohnheim.

In der Koordination ging es um die bestmögliche Kapazitäten-Nutzung: Unser Wohnheim hat 7 Küchen, wie bringen wir sämtliche Nationen unter. Unter Berücksichtigung, welcher Kulturkreis in welcher Küche kocht, habe ich Relationen unter den Nationen observiert. Beispielsweise darf man Leute aus Usbekistan nicht mit Leuten aus Kirgistan in eine Küche setzen, wenn man einen Streit verhindern will. Aber Kirgistan, Georgien und Russland hat funktioniert.
Die Spanier stellten eine große Gruppe, ebenso die Italiener. 
Ich zog einen riesen Contest ans Land, und an einem Tag war es soweit: 
7 Küchen waren voll, und simultan wurden unendlich viele Speisen zubereitet. Wir stellten in einem Stockwerk alle Tische heraus und brachten das Essen mitsamt Dekoration an den Platz. Plastikteller und -Becher sorgten für halbwegs saubere Umstände, und die Italiener gaben sich mit einer großen Polognese, sowie Limbo, die Ehre des Entertainments.
Ich hatte mein Ziel erreicht, und allesamt hatten eine gute Zeit. Diese Erfahrung zu machen, hat mir gezeigt, alles ist möglich. Ich habe es geschafft, 180 Leute an einem Abend zu einer gemeinsamen Aktivität zu bewegen. Und ich habe gut gegessen. ;)

All das blieb der Vereinigung, die eigentlich für uns zuständig war, nicht verborgen. Sie registrierten sinkende Teilnehmerzahlen auf deren Events, und wachsende auf meinen. Der Grund - meine waren schlichtweg interessanter und ansprechender. Dies führte zu allgemeiner Missgunst, vielleicht auch Neid. Man warf mir vor, Ihnen das Szepter aus der Hand zu reissen. Die Mentoren, die sich um die Studenten kümmern sollten, hatten zum Teil keinen Kontakt mehr zu Ihnen; wenn die Studenten Probleme hatten, kamen Sie zu mir.

In einer internen E-Mail der Organisation, die mir zukam, wurde ich betitelt als "Ein Problem, dass es zu lösen gibt." Ich fand mich in einem Krimi wieder.

Die erste Aktion der Organisation war das Senden von Polizeiaufgebot, dass uns über unsere Rechte aufgeklärt hatten. De facto kam dabei raus, dass wir keine Rechte hatten. Alles ist öffentlicher Raum in einem Wohnheim, und das Trinken von Alkohol, was bei vielen Elementar war, gehört unter Strafe - auch mit Gefängnisaufenthalt. 
So wurde nach dem Gespräch, das Wohnheim alle 4 Stunden von Polizei aufgesucht. Das sprach sich unter Einheimischen schnell rum, und der gegenteilige Effekt trat auf - wir wurden umso bekannter. Und die Führungsposition, das war ich.
Es kam nicht selten vor, dass ich in der Stadt von Fremden angesprochen wurde, die mich auf Fotos erkannt hatten. Die wissen wollten, was als nächstes anstand.

So hatte ich ein letztes Mal die Aufgabe, dem Ganzen einen draufzusetzen. Ich war schon so weit gekommen, nun ging es darum, wie weit man gehen kann. Wir organisierten eine Party, die größte bekannte Party. Massive Werbung wurde gemacht, und 500 Leute kamen. Ich hatte diesmal Hilfe, ein Team, denen ich bestimmte Arbeit auflud.
An besagtem Tag hatten wir 2 Zelte an einem abgelegenen Platz aufgebaut, mit Dj Equipment. Ein Freund aus dem Wohnheim, aus Montenegro war DJ, und spielte die Musik. Ein paar Hobbyfotografen, aus Kreuzberg und Frankreich machten die Fotos. 16 Männer trugen 30 Kisten Champagner 2 Kilometer weit.
Die Leute kamen, und wir feierten - Mittags um 12. Bis spät Nachts. Um 5 Uhr ließen wir die Leute, die bezahlt hatten, in einer Schlange aufreihen, und gaben den Champagner aus. Nachdem 220 Flaschen erfolgreich verteilt worden, brachten wir eine riesige Plane zum Einsatz. 
18 Uhr wurde der Startschuss gegeben, und 220 Korken knallten. Es war die größte Dusche, die ich beobachten konnte. Die Plane fing den Champagner auf, sodass sich die Oberfläche dazu eignete, über die Plane zu rutschen. Ich filmte dieses Event, und wir stellten danach ein Video online. Ich war zufrieden. 

Rückblickend kann ich sagen, dass ich mehr als das Beste aus der Zeit gemacht habe. Und dass mir das bestätigt wurde. An meinem Letzten Abend fanden sich unsagbar viele Leute ein, um sich noch Erinnerungsstücke von mir unterschreiben zu lassen - gängiges Prinzip. Aber ich erhielt auch viel. Mein Schreibtisch ist voll  mit Dingen, die mir Leute gegeben haben. Ich kann mich glücklich schätzen.
An dem Morgen, als ich das Wohnheim verlassen musste, um nach Deutschland zurückzukehren, hat sich das Wohnheim komplett(!) versammelt, um sich zu verabschieden. Ich trat in das Zentrum der Versammlung, und war nicht in der Lage, auch nur ein Wort zu sagen. Die Menschen, die mir die Möglichkeit gaben, das zu bewerkstelligen. Durch ihr Vertrauen meines in mich gestärkt haben.
Stattdessen nahm ich mir die Zeit, jedem kurz in die Augen zu schauen. Dann fing der erste mit dem applaudieren an, und es endete in einem großen Beifall für mich. Ich war sprachlos. Ein kleiner Franzose war der erste, der mich umarmt hat. Und schließlich kam jeder, einer nach dem anderen, um mir ein paar letzte Worte mit auf dem Weg zu geben. Ich war nur darauf bedacht, nicht zu weinen.
Sie begleiteten mich raus bis zum Taxi, und winkten mir zu. Ein überwältigendes Gefühl.
Zu Hause angekommen, erhielt ich via Facebook unzählige Einladungen. Dank Ryanair auch realisierbar. Ich buche keine Hotels oder Herbergen mehr, ich rufe meine Freunde auf der Welt an, und frage ob Sie Zeit haben.
Ich war dieses Jahr 5 mal in Riga, um eine Freundin zu besuchen, die mir wichtig ist. 
Ich hatte schon 15 Gäste aus 14 Ländern, die sich in den Süden Deutschlands eingefunden haben, um mich zu besuchen. Die Gesellschaft, die ich zusammengeschweisst habe, ist selbst nach der Trennung immer noch eins. Die anfängliche Erasmus Community entwickelte sich zu einer speziellen Form von Couchsurfing.
Ich bin unendlich glücklich.

Drei Wochen nach meiner Heimkehr entschloss ich mich zu einem ersten Trip. Ich bereiste die Türkei, Georgien, ein Pit Stop in Lettland auf einen Kaffee mit besagter guter Freundin und Mailand. 
In der Türkei erlebte ich den Ramadan, und war mit Freunden, die ich in Litauen geknüpft habe, zusammen. Sie zeigten mir Plätze, erklärten mir Kultur, kochten traditionelles Essen für mich. Ich habe viel gelernt über den Islam, und konnte Vorurteile revidieren.
Von dort bin ich in Batumi, einer Stadt in Georgien gelandet. Nur noch 150 Euro in der Tasche, und ich musste feststellen, dass ich in einer zerfressenden Gegend angekommen bin. Mein Freund holte mich am Bahnhof ab, und stellte mir seine Familie vor: 6 Junge Erwachsene, die sich für die Zeit einfach ne Bude in der Stadt zusammen genommen haben. Mietverträge gibts nicht, du klopfst an eine Tür, bezahlst, und ziehst ein. Das wars.
Wir schliefen zu 7. in einer Ein-Zimmer Wohnung. 4 auf 2 Ein-Personen-Betten, 2 auf der Couch, und 1 auf 2 Stühlen.
Am nächsten Tag wurden wir aus der Wohnung verwiesen, und saßen auf der Strasse. Wir fanden recht schnell eine andere Bleibe, die aber das Budget überschritt. Ich gab Ihnen mein Geld, und war Blank. 
Wir lebten von Wasserhahn und Brot. Ab und zu Kartoffeln. Wir wussten nie, ob wir genug für den nächsten Tag haben. Aber uns hat es an nichts gemangelt. In Armut zu leben war ein essentieller Erfahrungsgewinn für mich, und relativierte bis dato alles, was ich kannte. Das Schlimmste war das Fehlen von Arbeitsplätzen; Sie konnten keine Arbeit finden. Unterdrückung und Abzocke war an der Tagesordnung, die Viertel waren mehr als Schäbig. Und doch, war es wunderschön. Es war real, etwas authentisches, keine der Illusionen, denen man sich im Tourismus hingibt.
Ich lebte.
Ich habe diesen Menschen viel geben können, aber auch viel mitgenommen. Ich habe Arbeit in Deutschland nie gewürdigt. Und da komme ich aus einem Land, in dem Arbeit dir zeigt, was du damit eigentlich hast. Einen vollen Kühlschrank zum Beispiel. Was ganz Banales. Wenn man zu Hause lebt, sieht man solche Dinge nicht.

Ich bin seitdem ein anderer Mensch. Als ich wieder zu Hause ankam, stürzte ich mich förmlich in Arbeit. Ich habe miene Kurswahl schon 2 Monate vor Semesterbeginn auf Rekordpunktzahl hin ausgelegt und belegt, und sitze jetzt schon vor Büchern zur Vorbreitung. Ich habe einen 400Euro-Job bekommen und bin dankbar dafür. Ich saß bei einer Geburtstagsfeier meiner Großmutter, und als der Kartoffel- und Nudelsalat vor mir stand, konnte ich nicht umhin als zu lächeln. Ich danke dafür, dass ich das habe. Und ich weiss von Menschen, die weitaus weniger haben. Deswegen sammle ich all die Klamotten, die ich nicht mehr brauche, und Rucksäcke. Und ich versuche, ein günstiges Tablet zu ersteigen; das hat Sie so begeistert. Und das wird dann zu meiner georgischen Familie geschickt. Für mich ein kleiner Umkostenbeitrag, für diese Menschen eine unglaubliche Freude. 

Ich habe meine Stärken erkannt, und weiss, dass ich 80 ECTS in einem Semester mit guten Noten hinbekommen kann. Ich bin ein Weltbürger geworden, der an manchen Wochenenden nach Spanien/Polen/etc fliegt, um seine Freunde zu sehen. Ich habe dabei nicht das Gefühl von Urlaub, wohl aber das es etwas Besonderes ist, das Leben auf diese Art erfahren zu können.
Ich habe einen positiven Einfluss auf Menschen, und weiss, wie ich Sie motivieren kann. All das habe ich dort gelernt. Und wie ich mit Menschen umgehen muss, um ein Ziel zu erreichen.

Und doch sitze ich heute hier, und frage mich, was ich übersehe. Ich spreche 8 Sprachen, ich besitze eine gute Schreibtechnik, kann mich gut ausdrücken. Doch schwierig wird es, wenn man sprechen, aber nichts zu sagen hat. Deswegen belege ich gerade in einem Internet-Uni-Programm aus Amerika parallel zum Studium sehr viele Kurse zu Business, Marketing, Weltgeschichte, und Programmiersprachen (aus Neugier, ob das was für mich wäre). Ich denke, mit den erworbenen Kompetenzen und meiner kulturellen Erfahrung wäre ich in Richtung Public Relations oder Consulting gut aufgehoben. Irgendwas in meinem Kopf sagt mir, dass ich die Antwort auf die Frage schon längst weiss, aber ich kann Sie nicht formulieren. Weil ich etwas übersehe, verflixt.

Und an den Tagen, an denen ich an meinem Laptop verbissen herumbeisse und mit den Projekten hadere, die ich derzeit ausarbeite, schaue ich kurz hoch. Hinter dem Laptop sind die Geschenke der Welt auf meinem Schreibtisch vertreten, und rechts hinter dem Laptop ein kleines Notizbüchlein. In dieses hat eine gute Freundin, die ich in Georgien gewonnen habe, den Satz "It's a long way to the top.." geschrieben. 
Und ich erinnere mich wieder, warum ich diese Dinge getan habe, warum ich diese Dinge tue und weiterhin tun werde. Denn ich habe gelernt, andere Menschen haben diese Möglichkeit nicht, und ich möchte Ihnen Vorbild sein, dass man mit Arbeit und Willensstärke alles erreichen kann, was man will.
Und ich selbst weiss, dass ich kein Typ für Schichtarbeit bin, und dass meine Berufung in etwas Anderem liegt. 

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