Ein Film über eine Horde junger Außenseiter, die nur ihren Platz in
der Gesellschaft suchen und sich nach Zugehörigkeit sehnen. Ein
Coming-of-Age Roadmovie mit einer Unzahl großartiger Momente:
Trauer, Verzweiflung und Glückseligkeit wechseln sich fast schon in
hypnotischer Weise ab, weisen aber auch darauf hin, dass kein
Gefühl unendlich währt. Andrea Arnolds neuer Film demonstriert
vielmehr die Lebensweise einer Randgruppe, als eine klassische
Geschichte zu erzählen und ist genau deshalb so ein Fest. Die knapp
3 Stunden Laufzeit haben nahezu kein Gramm zu viel auf den Rippen
und veranschaulichen wie gute Charakterzeichnung und starke
Einzelszenen einen Film auch tragen können.
Hier wird die Realität abgebildet und nichts zwecks einer
spannenden Inszenierung dramatisiert oder übertrieben. Der
realistische Ansatz hilft ungemein und mit den Figuren warm zu
werden. Keine bildhübschen Posterboys und weibliches Eye Candy
sollen beim Zuschauer Sympathien erzwingen, dies wird allein durch
natürlich-wirkende Figuren und Anteil an ihrer Situation
erreicht.
Wiederkehrende Elemente wie laute Hip-Hop Mukke (welche nicht
gedubbed sondern real abgespielt wird), Gruppenrituale wie Kämpfe,
Tanzen und Singen dienen hier nicht nur als Ausdruck von Freude und
Gück, sondern funktionieren auch als Ventil um sich den
alltäglichen Frust zu entledigen. Wenn Rihanna‘s
We Found
Love erklingt und alle dazu spontan abdrehen, wird deutlich
wie sehr sich die Charaktere nach einem kurzzeitigen Ausweg aus
ihrem Leben sehnen (was bei Außenstehenden nur zu Unverständnis und
Abneigung führt). So sind es gerade diese Momente die eine
schizophrene Melancholie entfalten, da sie glücklich und traurig
zugleich stimmen. Hier erleben wir ein Kollektiv von Außenseitern,
die auch nur noch Geborgenheit und Zugehörigkeit streben. Diese
Gefühle scheinen ihnen nur innerhalb dieser Gruppe gegönnt zu sein.
Nach außen werden sie als Jugend ohne Zukunft wenig bis gar nicht
ernst genommen.
Die relativ lange Laufzeit wird aber nicht nur für
Charakterisierung und –entwicklung genutzt, sondern dient auch
dafür einen Querschnitt durch die amerikanische Wohlstandsschicht
zu ziehen. So trifft die weibliche Hauptfigur auf zahlreiche
Personen aus der gehobenen Mittelschicht, anhand dieser Begegnungen
wird das soziale Klassensystem verdeutlicht: Manche Personen
reagieren mit Mitleid und möchten sie unterstützen, andere hingegen
wollen mit ihr nichts zu tun haben oder ihre Lage für sich
ausnutzen. So richtig zugehörig fühlt sich keiner außerhalb der
Gruppe, einen schnellen Ausweg aus dieser Situation scheint es
nicht zu geben. Liebe und Anerkennung ist nur innerhalb ihres
Kollektivs möglich. Da wiegen Vertrauensbrüche und Enttäuschungen
umso schwerer, wenn die einzigen Vertrauten sich voneinander
abwenden.
Auch wenn inhaltlich nicht viel passiert, erreicht die Reise eine
gewisse Epik und kann als eine Selbstfindungssuche verstanden
werden. Die Hauptfigur versucht nur ihren Platz in einer
schnelllebigen Welt zu finden, muss Rückschläge verkraften und
macht deshalb eine glaubwürdige Entwicklung durch. Als Zuschauer
drückt man ihr wirklich die Daumen und wünscht ihr, dass sie ihr
ihr persönliches Glück findet.
Das Ganze wird in tolle Bilder gefangen, mit Indy-typischer
Handkamera im eher seltenen 4:3-Bildformat. Ähnlich wie bei Xavier
Dolans großartigen
Mommy wird hier das Format dafür
genutzt um immer die Figuren im Zentrum zu behalten. Keine
künstlichen Weitbildpanaromen sollen den Fokus auf das Drumherum
verschieben. Das hier ist eine intime und persönliche Geschichte,
die nicht mehr aus dem Leben gegriffen sein könnte.
Die schauspielerischen Leistungen wirken durch die Bank weg
natürlich und besonders Sasha Lane verdient besondere Beachtung.
Sie bringt den Wunsch der Hauptfigur nach Liebe, Verbundenheit und
Selbstverwirklichung ausgezeichnet rüber: Was eine Entdeckung! Shia
LaBeouf zeigt auch mal wieder warum er fernab irgendwelcher
Eskapaden ein klasse Schauspieler sein kann. Indy-Produktionen
scheinen ihm besser zu passen.
Der nüchterne Erzählstil, die kaum existente Handlung (keine
Handlung ist die neue Handlung) und die verhältnismäßige lange
Laufzeit wird vermutlich Einige abschrecken, aber dann verpasst man
einen der einfühlsamsten und authentischsten Dramen des
Jahres.
(9/10)