Welt am Draht Blu-ray ReviewDie 1960er und 70er Jahre waren nicht nur eine Zeit der
gesellschaftlichen Umwälzungen. Diese Jahre des Umbruchs wurden
auch von der Filmindustrie aufgegriffen und reflektiert. In den USA
zog sich das New Hollywood durch nahezu alle Genres, in Frankreich
widmete sich die Nouvelle Vague schon einige Jahre dem neuen
Zeitgeist. Auch das deutsche Kino blieb von dieser Entwicklung
nicht unbeeinflusst. Durch junge Regisseure wie Volker Schlöndorff,
Wim Wenders, Werner Herzog oder Rainer Werner Fassbinder wurde der
Film in der damaligen Bundesrepublik zunehmend sozialkritisch und
politisch. Der Neue Deutsche Film grenzte sich nicht nur
inhaltlich, sondern auch formal-inszenatorisch in jeder Hinsicht
vom althergebrachten ab. Aus heutiger Sicht reibt man sich als
Filmfan erstaunt die Augen, welche kreativen Höhenflüge vor rund 40
Jahren im deutschen Film möglich waren. Ein hervorragendes Beispiel
dafür ist etwa Fassbinders
Welt am Draht aus dem
Jahr 1973, der viele Motive späterer Science-Fiction-Filme wie
Matrix oder
Total
Recall vorweg nimmt.
Story:
Seltsame Dinge geschehen am Institut für Kybernetik und
Zukunftsforschung. Die staatliche Einrichtung widmet sich der
Forschung an und mit dem Supercomputer Simulakron, der eine voll
funktionsfähige virtuelle Realität simuliert, inklusive knapp
10.000 so genannter „Identitätseinheiten“, also digital generierter
„Menschen“. Der Leiter des Projekts Henry Vollmer (A. Hoven)
verhält sich jedoch seit einiger Zeit zunehmend manisch-depressiv
und kommt wenig später bei einem Unfall ums Leben. Sein Nachfolger
ist der noch relativ junge Wissenschaftler Fred Stiller (K.
Löwitsch), dem der mysteriöse Tod seines Vorgängers zunehmend
seltsam erscheint. Potentielle Zeugen lösen sich von jetzt auf
gleich sprichwörtlich in Luft auf, Beweise verschwinden, Kollegen
können sich auf einmal an nichts mehr erinnern. Die Spurensuche
entwickelt sich für Stiller zu einem kafkaesken Alptraum. Die
Anzeichen verdichten sich, dass Vollmer kurz vor seinem Tod einer
unglaublichen Enthüllung auf der Spur war. Und Stiller lässt in
seinem Bestreben die Wahrheit zu enthüllen nicht locker.
Es ist schon erstaunlich welche Perlen der Filmgeschichte im Zuge
einer Veröffentlichung auf Blu-ray wieder das Licht der Welt
erblicken.
Welt am Draht gehört ohne Zweifel dazu.
Jahrelang war der Film nicht verfügbar, bis er im Jahr 2010
restauriert und zuerst auf DVD Wiederveröffentlicht wurde.
Verblüffend ist auch die visionäre Geschichte des Films aus den
frühen Siebzigern. Das Spiel mit virtuellen Realitäten und ihrer
Verflechtung mit der Wirklichkeit wurde einer breiteren
Öffentlichkeit eigentlich erst im Jahr 1999 zu Bewusstsein
gebracht, als die Wachowski-Brüder das Schicksal der Menschheit in
der „Matrix“ ausfechten ließen. Der Film wurde als Revolution und
Meilenstein gefeiert. Im Nachhinein muss man die anfängliche
Euphorie freilich ein wenig relativieren. Was die visuellen Effekte
anging, war Matrix ohne Zweifel bahnbrechend, die Story um eine
virtuelle Parallelwelt war zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits
ein alter Hut. So arbeitete sich schon William Gibson ab 1984 in
seiner „Neuromancer“ Romantrilogie am Thema ab. Und abermals elf
Jahre davor widmet sich
Welt am Draht von Rainer
Werner Fassbinder genau dieser Thematik.
Dabei legt der als Zweiteiler konzipierte Fernsehfilm seinen
Schwerpunkt freilich nicht auf spektakuläre Actionszenen, sondern
widmet sich hauptsächlich den erkenntnisphilosophischen Untiefen
einer im Computer erzeugten, künstlichen Wirklichkeit. Der Begriff
„Virtuelle Realität“ existierte damals noch nicht und kommt
folglich im Film nicht einmal vor. Eingebettet wird der sich
langsam erschließende Clou des Films in Motiven des klassischen
Thrillers und Kriminalfilms. Klaus Löwitsch liefert eine brillante
Leistung als typischer Film-Noir-Held ab, der sich immer mehr in
Bedrängnis sieht, je näher er der Lösung des Geheimnisses kommt.
Fassbinder bedient sich extrem kühler und stilisierter Bilder, die
die typisch sterile Ästhetik der Siebziger dermaßen auf die Spitze
treibt, dass man den Film zeitlich tatsächlich in einer nahen
Zukunft verortet, ähnlich etwa Kubricks
Uhrwerk
Orange.
Veredelt wird die Inszenierung von Kameramann Michael Ballhaus, der
die Geschichte mit exotischen Perspektiven und Kamerafahrten
bereichert. Kostüme und schillernde Randfiguren vermitteln einen
zusätzlichen surrealen Touch. Wenn man dieses Meisterwerk des
deutschen Films nun mit aktuellen Fernsehproduktionen vergleicht,
kommen dem anspruchsvollen Filmfan zwangsläufig die Tränen. In der
heutigen, degenerierten deutschen Fernsehlandschaft wäre eine
anspruchsvolle Produktion wie
Welt am Draht
schlicht und einfach undenkbar.
Bildqualität:
-
Videocodec MPEG-4 AVC, Ansichtsverhältnis 1,33:1, Auflösung
1080p
-
geringe Grundschärfe
-
weiche Kontraste
-
blasse Farben
-
mal mehr, mal weniger präsentes Rauschen
-
guter Schwarzwert
-
gute Detailzeichnung in Nahaufnahmen
-
Verwendung von digitalen Filtern oder Scharfzeichnern nicht
erkennbar
Der Film wurde im Jahr 2010 im Auftrag der Rainer Werner Fassbinder
Foundation einer vollständigen Restaurierung unterzogen. Diese
wurde von Kameramann Michael Ballhaus überwacht und abgesegnet.
Dabei wurde bewusst Wert darauf gelegt, das Filmmaterial
grundsätzlich so zu belassen wie es vom Regisseur beabsichtigt war.
Aktuelle Sehgewohnheiten werden demnach nur bedingt bedient. Das
sollte man bedenken, wenn man sich dem Werk nähert. So wurden zum
Beispiel Fussel, die sich auf das Filmmaterial verirrt haben,
bewusst nicht retuschiert. Demnach will der Transfer sein Alter gar
nicht verleugnen. Dennoch ist das Ergebnis für einen 40 Jahre alten
Film als gelungen zu betrachten.
Tonqualität:
-
Deutsch DTS-HD Master Audio 2.0
-
Dialoge jederzeit klar verständlich
-
frontlastig
-
teilweise leichtes Rauschen
-
keine Surroundeffekte
-
kein Subwoofereinsatz
Was für den Bildtransfer gilt, gilt auch für die Restaurierung der
deutschen Tonspur. Der dialogorientierte Film wird über die
Frontkanäle sauber abgebildet. Nicht mehr, aber auch nicht
weniger.
Ausstattung:
-
Rainer Werner Fassbinder 1977 – Interview (ca. 29
Min.)
-
Das kleine Chaos – Kurzfilm (ca. 9 Min.)
-
Der Stadtstreicher – Kurzfilm (ca. 11 Min.)
-
Fassbinders „Welt am Draht“ – Blick voraus ins Heute (HD, ca. 48
Min.)
-
Fotogalerie
Das Interview mit Fassbinder wurde während der Dreharbeiten zu
„Despair – Eine Reise ins Licht“ geführt. Es vermittelt einige
allgemeine Ansichten des viel zu früh verstorbenen Regisseurs.
Überaus interessant ist das 2010 produzierte retrospektive Making
Of, in dem zum Beispiel Michael Ballhaus oder Schauspieler
Karl-Heinz Vosgerau zu Wort kommen. Die Extras liegen teilweise in
HD vor.
Fazit:
Der HD-verwöhnte Filmfan muss sich darüber im Klaren sein, dass er
es bei
Welt am Draht mit einer 40 Jahre alten
Fernsehproduktion zu tun hat. In diesem Geiste wurde auch die von
Kameramann Michael Ballhaus begleitete Restaurierung von Bild und
Ton durchgeführt. Referenzmaterial sollte man also nicht erwarten.
Vor allem das Interview mit dem Regisseur und das im Zuge der
Wiederveröffentlichung produzierte Making-Of sollten sich
Interessierte nicht entgehen lassen.
Ohne allzu hochzugreifen ist festzustellen, dass es sich bei
Welt am Draht im Rückblick um einen kleinen
Meilenstein, nicht nur der deutschen Filmgeschichte, handelt. Ein
Film, der im Jahr 1973 virtuelle Realitäten thematisiert, ist
nichts weniger als seiner Zeit weit voraus. An heutigen
Sehgewohnheiten gemessen nimmt sich der Film natürlich extrem viel
Zeit, um seine Geschichte zu erzählen. Eine Spielzeit von insgesamt
dreieinhalb Stunden dürfte für viele eine Herausforderung
darstellen. Doch es lohnt sich. Schließlich ist der deutsche Film
mit anspruchsvoller Science-Fiction nicht gerade im Übermaß
gesegnet.
Kurzbewertungen:
Story: 9/10
Bild: 6/10
Ton: 5/10
Extras: 6/10
Gesamt*: 6/10
* In der Gesamt-Bewertung wird die
Story nicht berücksichtigt.Kaufempfehlung: 7/10
Die Kaufempfehlung der Welt am Draht
Blu-ray wird anhand der technischen Bewertung und unter
Berücksichtigung der Story berechnet.Testgeräte:
TV: Panasonic TX-P55VT50E (55“) (kalibriert)
BDP: Panasonic DMR-BST720
Ton: Pioneer SC-LX56, 2x Trigon Dwarf II
Lautsprecher: B&W 803S (Main), Boston A26 (Front-Wide,
Surround), Teufel M-500 (Back-Surround)