Habe den Film jetzt endlich sehen können, noch vor der deutschen
Kinoauswertung im August:
"Tom at the Farm" ist das vierte Regiewerk des frankokanadischen
Regisseurs Xavier Dolan und lief bereits bei den Filmfestspielen
von Venedig vergangenen Jahres im Wettbewerb (gewann den FIPRESCI
Award). Dabei gelingt ihm mit seinem Psycho-Thriller eine ruhig
inszenierte Gewaltparabel über die besessene Einsamkeit und das
Entkommen aus einer lustvollen Gefangenschaft.
Nach dem Tod von Guillaume reist Tom zur Farm der Familie des
Liebhabers und muss schon bald schmerzlich erfahren, dass weder die
Mutter, noch der finstere Bruder Francis, von den Liebschaften
ihres verstorbenen Familienmitgliedes Bescheid wussten. Francis,
welcher seit geraumer Zeit vor dem plötzlichen Tod seines Bruders
bereits einen Verdacht hatte, sieht sich daran bestätigt, als er
Tom's Stimme wiedererkennt und sich dabei an ein Telefonat
erinnert, in dem es um einen leidenschaftlichen Urlaub ging. Tom
wird daraufhin von Francis aufgefordert den Ruhestifter zu spielen
und alle möglichen Probleme zu besänftigen, ohne, dass die Mutter
von der geheimen Liebe zum Verstorbenen erfährt. Doch je mehr sich
Tom in das Farmer-Leben eingliedert, desto aggressiver und
besitzergreifender wird Francis.
Regie-Wunderkind Xavier Dolan hat nach seiner Trilogie über die
"impossible love" ("I killed my mother", "Herzensbrecher" und
"Laurence Anyways") einen genretechnischen Regiewechsel
angekündigt. Er wolle sich einem Film widmen, welcher ihm die
Spielerei mit Gewalt, Lust und Ermächtigung erlaube und fand diese
Gelegenheit in dem Theaterstück "Tom á la ferme" von Michel Marc
Bouchard. Dolan inszeniert dabei ungewöhnlich dezent und ruhig, weg
sind die voller Leben und Farbe strotzenden Montagen, die clipartig
unterlegten Musik-Hits der 70er - 90er Jahre und ästhetisch höchst
wundervoll anzusehenden Zeitlupen aus seiner Trilogie. Ein tristes,
mit dunklen Brauntönen gefärbtes, stark unterkühltes Bild beseitigt
diese bisherigen Regiekonstanten und die fantastisch, atmosphärisch
verstörenden Klänge des Academy-Award Gewinners Gabriel Yared ("Der
englische Patient") runden das Gesamtbild sehr authentisch ab. Und
doch ist es ein typischer Dolan mit einigen Szenen und
Kameraperspektiven ganz nah an den Protagonisten von hinten, ganz
wie bei Wong Kar-Wei. Zudem hat Dolan einige Regiekünste parat
(Stichworte: Augen, Tanz und Kamerafokus)
Die Gewalt ist in nahezu jeder Szene zu spüren. Sie ist wie ein
omnipräsentes Mittel, sei es die Musik, die Körperlichkeit oder die
Psyche. Stets wechseln diese einzelnen Elemente ihren Fluss und
ihre Anordnung, je nach Interaktion zwischen den Charakteren.
Mitten drin ist die von Regisseur Dolan höchstpersönlich gespielte
Figur Tom, welche durch Druck und Einsatz dieser Gewalt schon bald
einen wahren Käfig um die Farm zu sehen scheint, aus dem es kein
Entrinnen zu geben mag. Denn der Verlust des Liebhabers ist mit dem
des Bruderverlustest von Francis zu keinem Zeitpunkt äquivalent. Es
sind Gegensätze, die sich vor allem Francis zu eigen macht und
durch die beängstigende Einsamkeit Lust und Gefallen daran findet
Tom zu besitzen.
Thematisch ist der Psychothriller ein starkes Brett, leider fehlt
es an ambivalenten Charakteren, die dieser Thematik samt
Inszenierung gerecht wierden. Dolan verzichtet auf eine
psychologische Komplexivität, was somit die Regieorientierung auch
auf Ebene des Drehbuches anscheinend perfekt machen soll. Nur
bleiben diese "Figuren" damit stets nicht mehr als "Mittel zum
Zweck". Das ist schade, da somit die Hinterfragung und
Konkretisierung von Motiven, allen voran bei der Mutter-Figur und
die als Zwecklösung angedachte, vermeintliche "Freundin" des
Verstorbenen, in ein klares und statisches Konzept fallen.
Das mag man ihm vielleicht verzeihen, jedoch war es in seinen
vorangegangenen Filmen immer eine der vielen Stärken des jungen,
25-jährigen Quebecer, die Charaktere so lebensnah und natürlich zu
schreiben, dass sie fast schon einen dokumentarischen Stil
unterstreichen und uns emotional fesseln können.
Ansonsten gibt es nur wenige Schwachpunkte neben der oberflächlich
geschriebenen Charaktere, vielleicht noch, dass die grundlegende
Story definitiv keine Revolution darstellt. Auch das Pacing in den
letzten 10 Minuten ist zu sehr notgedrungen auf ein schnelles Ende,
was zwar im Einklang mit der Psychologie der Charaktere steht, für
den Plot dann aber doch zu hektisch ist. Immerhin gibt es im
Abspann noch eine kleine Erweiterung der Szenerie, was einem
Ausklang gleichkommt.
Mit der Theateradaption "Tom at the Farm" ist Xavier Dolan ein Film
über die Gewalt im possessiven Sinne gelungen. Nicht immer eine
runde Angelegenheit und bis auf den Protagonisten psychologisch und
charakterentwicklungstechnisch eher durchwachsen, ist das Werk
durch seine gute und präzise kalkulierte Inszenierung und seinen
orchestralen Score letztlich starkes Kino und einer der wenigen
Vertreter des "Queer" Noir Filmes.
7, 5/10
Meine Top-3 2016(so
far):
1.
The Assassin
2.
The Revenant
3.
Anomalisa
Most Wanted:
It's Only the End of the World, Son of Saul, The Neon
Demon, Der Nachtmahr, Der Schamane und die Schlange, Arabian
Nights, A Lullaby to the Sorrowfull Mystery