Deutschland trauert um seinen bekanntesten Theater-Provokateur.
Regisseur Christoph Schlingensief ist vor wenigen Stunden seinem
Lungenkrebsleiden erlegen - er wurde nur 49 Jahre alt.
Mülheim - Der krebskranke Theaterregisseur Christoph Schlingensief
ist am Samstag gestorben. Dies bestätigte ein Sprecher der
Ruhrtriennale in Mülheim. Die Familie habe die künstlerische
Leitung über den Tod informiert. Künstler und Politiker würdigten
Schlingensief als "Wachrüttler" und "einen der wirklich Großen",
dessen Provokationen der Republik fehlen würden (alle
Reaktionen...).
In zwei Monaten wäre er 50 Jahre alt geworden. Er litt seit langem
an Lungenkrebs. Anfang Juli hatte er sein für die diesjährige
Ruhr-Triennale vorgesehenes Stück "S.M.A.S. H. - In Hilfe
ersticken" nach einer neuen, schweren Krebsdiagnose abgesagt (siehe
Kasten). In einem Interview im Mai sagte er, er wisse seit einigen
Monaten, dass er neue Metastasen habe. Durch den Krebs sei "alles
in den Boden gerissen worden". Bis es nicht mehr ging, arbeitete er
noch an seinen Memoiren - die Veröffentlichung war ursprünglich für
den 23. September geplant, einen Monat vor seinem Geburtstag am 24.
Oktober.
Im Juli teilte der Verlag Kiepenheuer und Witsch dann ohne nähere
Erläuterung mit, dass der Erscheinungstermin des Buches nicht
eingehalten werden könne. "Fest steht jedoch, dass es noch in
diesem Jahr publiziert werden wird", hieß es damals. Was jetzt aus
den Plänen wird, war zunächst nicht bekannt. Der an Lungenkrebs
erkrankte Regisseur hatte bei Kiepenheuer im Frühjahr vergangenen
Jahres bereits sein "Tagebuch einer Krebserkrankung"
veröffentlicht, das große Beachtung gefunden hatte.
Schlingensief galt als einer der umstrittensten Vertreter des
deutschsprachigen Kulturbetriebs, er war der wohl bekannteste
Theaterprovokateur im deutschsprachigen Raum - und ist auch
Menschen ein Begriff, die nicht regelmäßig Opernhäuser und Theater
besuchen.
Kritiker waren zuweilen uneins darüber, ob Schlingensief nur um der
Provokation willen provoziere oder vielleicht doch zu den "letzten
deutschen Moralisten" zählte. Oft und gerne überschritt er die
Grenze vom Theater zur Politik - zum Beispiel als er auf der
Kasseler Documenta 1997 ein Plakat mit der Aufschrift "Tötet Helmut
Kohl" präsentierte und von der Polizei vorübergehend festgenommen
wurde.
Aus einem nach seiner Schilderung kleinbürgerlichen Elternhaus in
Oberhausen hatte der Sohn eines Apothekers und einer
Kinderkrankenschwester schon früh zur Kunst gefunden. Nachdem er
sich zweimal vergeblich an der Münchner Hochschule für Fernsehen
und Film beworben hatte, nahm er in München ein Studium der
Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte auf, das er nach
sieben Semestern abbrach. Eine Episode blieb seine Tätigkeit als
Aufnahmeleiter der TV-Serie "Lindenstraße", eine "grauenvolle
Erfahrung", wie er später bekannte. 1988 produzierte er für das ZDF
das Fernsehspiel "Schafe in Wales".
"Das deutsche Kettensägenmassaker" - unvergessen
Seine Karriere als "Provokateur vom Dienst" begann dann mit den
Filmen "100 Jahre Hitler" und "Das deutsche Kettensägenmassaker".
In letzterem zeichnete Schlingensief die erste Stunde der deutschen
Wiedervereinigung als "nationales Schlachtfest". Die Nachricht von
der Maueröffnung versetzt eine westdeutsche Metzgersfamilie in
einen hemmungslosen Blutrausch, bei dem mehrere DDR-Bürger
gemeuchelt werden.
Wiedervereinigung und eine gelungene Antwort auf die Langweile des
deutschen Films", schrieb die "Süddeutsche Zeitung". Der ewige
Kanzler hatte es Schlingensief angetan. Zur Bundestagswahl 1998
gründete er die Partei "Chance 2000" für Nichtwähler, Behinderte
und andere Minderheiten. Öffentlichkeitswirksam lud er vier
Millionen Arbeitslose dazu ein, gleichzeitig im Wolfgangsee im
Salzkammergut zu baden und Kohls dortiges Urlaubsziel zu
fluten.
In den neunziger Jahren gehörte Schlingensief zu Frank Castorfs
Hausregisseuren an der Berliner Volksbühne. Legendär sind die Filme
"Terror 2000 - Intensivstation Deutschland" (1992) und die
TV-"Talkshow 2000", seine Theaterinszenierungen, Kunstperformances
und Installationen wie "100 Jahre CDU", "Rocky Dutschke, 68",
"Passion Impossible - 7 Tage Notruf für Deutschland" in Hamburg und
"Hamlet" in Zürich.
"Schlingensief war da und Bayreuth steht noch"
2004 inszenierte er bei den Bayreuther Wagner-Festspielen erstmals
eine Oper. Wohl keine andere Inszenierung auf dem Grünen Hügel
erregte solch ein öffentliches Interesse. Der ganz große Skandal
blieb allerdings aus. "Schlingensief war da und Bayreuth steht
noch", schrieb der Kritiker der "Zeit" damals.
Als er 2008 die Krebsdiagnose bekam, zog er sich komplett zurück.
Monate später meldete er sich in Interviews zurück und berichtete
von der Krankheit und den Folgen. Zugleich nahm er seine Arbeit
wieder auf, die seitdem stark um seine Krankheit kreiste. 2008
zeigte er bei der Ruhrtriennale "Eine Kirche der Angst vor dem
Fremden in mir", 2009 feierte im Wiener Burgtheater "Mea Culpa -
eine ReadyMadeOper" Premiere. Außerdem veröffentlichte er das Buch
"So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein - Tagebuch einer
Krebserkrankung".
Schlingensief war 2009 Mitglied der Berlinale-Jury, er inszenierte
in diesem Mai das Opernprojekt "Via Intolleranza II" nach Luigi
Nono in Brüssel und anderen Orten, er nahm die Aufgabe der
Gestaltung des Deutschen Pavillons für die Biennale 2011 in Venedig
an. Er plante, die Oper "Metanoia" zur Wiedereröffnung des Berliner
Schiller Theaters als Ausweichquartier für die Staatsoper Unter den
Linden im Oktober zu inszenieren. Und mit dem Operndorf "Remdoogo"
in Burkina Faso wollte sich Christoph Schlingensief nach Ansicht
vieler noch ein Denkmal setzen - im Februar wurde der Grundstein
für das Projekt "Festspielhaus Afrika" gelegt.
Mit immer neuen Aufgaben und Projekten schien Schlingensief gegen
seine schwere Krankheit ankämpfen zu wollen. Im August 2009
heiratete Schlingensief seine Mitarbeiterin, die Kostüm- und
Bühnenbildnerin Aino Laberenz, und ließ sogar durchblicken, das
Paar wünsche sich Kinder.
Immer wieder wurde Schlingensiefs fast dramatische Vorahnung seines
Schicksals zitiert. Als er im Sommer 2004 an seiner Bayreuther
"Parsifal"-Inszenierung arbeitete, machte er in einem Interview
eine prophetische Bemerkung. Er sei davon überzeugt, nach dem
"Parsifal" Krebs zu bekommen, sagte er.
Vier Jahre später sollte sich seine Aussage bewahrheiten.
quelle:Spiegel.de
Evtl. kannte der eine oder andere ihn,ich fand seine Provokanten
Interviews und Filme klasse:sad:
„Die meisten Regisseure machen Filme mit ihren Augen. Ich
mache Filme mit meinen Eiern.“
Alejandro Jodorowsky
Wir wollen nicht traurig sein, dass du nicht
mehr bei uns bist,
sondern froh, dass es dich für uns gab.
In Memory of Frida Sedler 16.10.1939-11.06.2011